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Cover LI 141
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LI 141, Sommer 2023

Thriller Psychoanalyse

Über die Kunst der Rekonstruktion unwiederholbarer Erfahrungen

Allein der Titel dürfte manchen davon abhalten, diesen Beitrag zu lesen: Schließlich ist der Vergleich von Psychoanalyse und Thriller reichlich abgedroschen. Das Klischee findet sich zuhauf in Sachbüchern, vor allem aber in unzähligen Romanen, Filmen und Serien, in denen ein Psychiater oder Psychoanalytiker ein Verbrechen rekonstruiert, als wäre es ein psychiatrischer Fall, oder einen psychiatrischen Fall, als wäre er ein Verbrechen. Diese Fülle von – vornehmlich amerikanischen – Werken rund um Sherlock Freud oder Sigmund Holmes hat nicht wenige Psychoanalytiker dazu veranlaßt, die Gleichung „Psychoanalyse = psycho-polizeiliche Ermittlung“ als Hollywood-Kitsch abzulehnen.

Doch Schriftsteller und Filmemacher besitzen oft mehr Weitblick als Theoretiker. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, daß die Art und Weise, wie sich eine Analyse entwickelt, große Ähnlichkeit mit der Struktur eines Krimis aufweist. Beide sind bewegende, fesselnde Formen von etwas, das wir als Geschichtswissenschaften verstehen müssen – Wissenschaften, die einzigartige Ereignisse rekonstruieren, etwas, das nur einmal stattgefunden hat.

Ödipus, Hamlet, Dupin

Tatsächlich sind die literarischen Vorbilder, auf die Freud nach eigenen Angaben für seine Theorie des Menschen zurückgriff, zwei berühmte Prototypen des Krimis in der westlichen Kultur: Sophokles’ Ödipus, Tyrann und Shakespeares Hamlet. (Ich beziehe mich auf Ödipus, den Tyrannen – Οἰδίπους Τύραννος – von Sophokles, nicht auf den gutmütigen Ödipus Rex, von dem normalerweise die Rede ist.) Schon Aristoteles bezeichnete in seiner Poetik die Tragödie des Sophokles als das vollkommenste ihm bekannte Bühnenwerk. In der Tat fallen darin zwei grundlegende Elemente der tragischen Erzählung – Peripetie und Anagnorisis – zusammen. „Peripetie“ bezeichnet die Verkehrung einer Handlung in ihr Gegenteil, etwa, wenn jemand in der Absicht, Gutes zu tun, Böses tut, und umgekehrt. „Anagnorisis“ bedeutet (Wieder-)Erkennen und markiert den Moment, in dem Unwissenheit in Wissen umschlägt: Der Held erkennt die (meist unerträgliche) Wahrheit, was die tragische Erzählung abschließt.

Es heißt, daß uns Ödipus, Tyrann das exakte formale Schema des modernen Krimis liefert: Denn hier fällt die Verkettung der Ereignisse (die Ermittlungen des Kriminalisten) mit der Erkenntnis (der Entdeckung des Mörders) zusammen. Die paradigmatische Peripetie in der modernen Kriminalgeschichte besteht darin, daß der Mörder, nachdem er zunächst ungestraft davongekommen ist und sein düsteres Ziel scheinbar erreicht hat, am Ende als Schuldiger entlarvt und – vermutlich – bestraft wird. (Im klassischen Thriller ist die letztendliche Bestrafung des Täters unerheblich, denn der Mörder ist nicht das Objekt eines rachsüchtigen Hasses, sondern das Objekt einer hermeneutischen Herausforderung. Ist der Schuldige erst einmal erkannt, bedarf es keiner rachsüchtigen Leidenschaft.) Heutzutage würde Aristoteles wahrscheinlich die Kriminalgeschichte als vollkommenste Erzählung bezeichnen. Tatsächlich besteht die Handlung in Ödipus, Tyrann in einer polizeilichen Ermittlung: Es gilt, den Mörder von König Laios zu finden, und damit die Ursache der Pest, die Theben heimsucht. Aber die Tragödie des Sophokles ist, gelinde gesagt, ein außergewöhnlicher Thriller: Hier findet der Ermittler am Ende heraus, daß er selbst der Mörder ist! Eine derart gewagte Auflösung anzubieten hat sich kaum ein Krimi des 20. Jahrhunderts getraut. (Und Ödipus ist für Sophokles genau deswegen ein „Tyrann“, weil er ein Mörder ist.) Wenn Ödipus, Tyrann für Aristoteles die vollkommenste Tragödie ist, so ist sie das aber auch für Freud, allerdings nicht wegen ihrer Form, sondern wegen ihres Inhalts: Für ihn ist jeder Mensch (egal, ob Mann oder Frau? Diese Frage ist bis heute umstritten) wie Ödipus. Zumindest in dem Sinne, daß jeder Mensch, auch wenn er nicht seinen Vater getötet und nicht mit seiner Mutter geschlafen hat, beides gern getan hätte.

Was Freuds anderes Modelldrama, den Hamlet, betrifft, so sind wir wieder beim Proto-Thriller. Der Mörder wird gleich zu Beginn des Stücks von einem übernatürlichen Informanten, einem Geist, entlarvt: Der König von Dänemark wurde von seinem Bruder ermordet, der wiederum mit der Frau des Königs unter einer Decke steckt. Im übrigen ist Hamlet ganz ähnlich gestrickt wie Patricia Highsmith’ 1950 erschienener Roman Zwei Fremde im Zug (den Hitchcock 1951 verfilmte, wobei der Roman viel besser ist als der Film). In diesem Roman muß unser Held einen Unbekannten töten, weil er in der Schuld eines Mannes steht, dem er zufällig im Zug begegnet war. Dieser Zufallsbekannte hat ihm den großen Gefallen getan, seine Frau zu töten, denn er wollte sie loswerden, um eine andere zu heiraten. Bei Shakespeare wie bei Highsmith besteht die ganze Spannung der Geschichte darin, daß wir uns fragen: „Wird es unser Held schließlich schaffen, den Mord zu begehen, an dem kein Weg vorbeiführt?“ Lange quält sich der Protagonist mit hamletischen Zweifeln. Am Ende wird auch er, „der Gute“, das Verbrechen begehen, das er dem anderen schuldet – aber für beide Mörder läuft es nicht so glatt wie gedacht.

Für Freud ist Hamlet ein moderner Ödipus, sprich: ein gescheiterter Ödipus; ein Ödipus, der es nicht schafft, zur Tat zu schreiten. (Analytiker mögen es nicht, wenn ihre Patienten zur Tat schreiten, also handeln statt reden. Sie sollen sich nicht wie Ödipus verhalten, sondern weiter ihre endlosen Selbstgespräche führen, wie Hamlet: „Sein oder Nichtsein …“ Hamlet ist der gute Patient, Ödipus der böse.)

In der Tat gibt es heute zwei Arten von Analytikern: Die einen halten ihre Patienten tatsächlich für Ödipusse, die als solche entlarvt werden müssen, die anderen – moderneren – halten sie für Hamlets, also für gescheiterte Ödipusse. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zu der Vorstellung, daß die Psychoanalyse selbst eine fehlgeschlagene Ermittlung – und somit ein gescheiterter Thriller – ist; ein kleiner Schritt, den viele tun. 

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Ist es ein Zufall, daß Freud und Lacan ausgerechnet Helden des Proto-Krimis zu Prototypen ihrer Theorien gemacht haben? Wohl kaum. Diese Wahl ist symptomatisch. Die Vorliebe für Detektive oder Mörder – in der Regel sowohl Mörder als auch Detektive – enthüllt metaphorisch das Wesen der Psychoanalyse als historische Untersuchung

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Der kitschige – beziehungsweise „populäre“ – Analytiker ist der Auffassung, die Analyse sei eine historische Rekonstruktion, deren Ziel es ist, etwas zu erreichen, auch wenn dieses Etwas eher dem Reich der Phantasie, dem Imaginären entspringt als dem externen Ereignis. Bei dieser Analyse geht es sozusagen darum, am Ende den „Mörder“ zu finden, woraufhin der Patient fortan ein glückliches und zufriedenes Leben führt. Viele halten die besondere Mutter-Kind-Beziehung für den Mörder – keine besonders spannende Krimiserie, würde ich sagen. Aber die Analyse, die gerade angesagt ist, beharrt darauf: Hauptsache, der Patient findet heraus, daß er „keine ausreichend gute Mutter“ hatte. Der schicke Analytiker ist dagegen der Auffassung, daß die Analyse nie zu einem Etwas führt, das die autobiographische Erzählung, das historische Schicksal des Subjekts und das lange Abenteuer der Analyse abschließt. Seiner Meinung nach läßt die Analyse ein Rätsel, eine Nicht-Lösung, eine Unabgeschlossenheit bestehen. Der antikitschige Analytiker tröstet sich mit dem Gedanken, daß die Akzeptanz dieser Unabgeschlossenheit die Voraussetzung dafür ist, daß der Patient Kreativität entwickelt (jene Kreativität, auf der Donald W. Winnicott bestand). Der kitschige Analytiker zielt darauf ab, den Patienten glücklich und zufrieden zu machen, während es dem schicken Analytiker eher darum geht, ihn kreativ zu machen. 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.