LI 86, Herbst 2009
20 Jahre Mauerfall – Berlin und Europa
Elementardaten
Textauszug
Verehrte Leser, liebe Freunde!
Seit ihrer Gründung in Berlin im Mai 1988 hat Lettre International dazu beizutragen versucht, die geistigen wie politischen Mauern des Kontinents durchlässiger zu machen. Zahlreiche Texte zu den Hintergründen der Umwälzungen von 1989 sind auf unseren Seiten erschienen. Heute nehmen wir das zwanzigjährige Jubiläum des Mauerfalls zum Anlaß einer kleinen Bestandsaufnahme. 1989 – 2009. 20 Jahre Mauerfall – Berlin und Europa. Wir haben mehr als hundert internationale Autoren und Künstler eingeladen, mit Inspiration und Beobachtungsgabe, analytischer Kraft und Erinnerungsvermögen zu diesem Blick auf den großen Umbruch und seine Folgen beizutragen. Das Resultat ist dieses Doppelheft mit Zeichnungen, Malerei und Photographien, mit Essays, Erzählungen, Reportagen, Gesprächen, Erinnerungen und Konzepten.
Das „magische Jahr“ 1989 war mit Glücksgefühlen und großen Hoffnungen verbunden. Der Kalte Krieg war beendet, die alptraumhafte Vision einer neuerlichen Zerstörung des Kontinents verflogen. Eine neue Blüte und Weltoffenheit kündigten sich an. In keiner anderen Stadt hatte die Last der Geschichte so schwer gewogen wie im geteilten und spannungsgeladenen Berlin; keine andere Stadt kannte eine solche Freude über die abfallende Last und die sich eröffnenden Möglichkeitsräume. Der Weltgeist schien in Berlin erneut Quartier zu nehmen. 1989 – das war einer jener seltenen Augenblicke der Geschichte, in denen alles möglich schien.
Zwanzig Jahre – das bedeutet fast eine Generation. Was wurde aus dem neuen Europa? Wie löste sich das Reich des Sozialismus auf? Was ist an seine Stelle getreten? Und was wurde aus Berlin – als Realität, als Symbol, als deutsche Chiffre einer großen Gelegenheit? Der Stadt des Todesstreifens, dem Ort getrennter Familien, Experimentierfeld des Sozialismus, Tummelplatz der Spione, Bucht der Gestrandeten und selige Insel der Subventionskünstler, aber auch Freiraum der Kreativen und der Studenten? Ist nach dem „Mythos Berlin“ nur die „Berliner Illusion“ geblieben? Hat sich aus dieser letzten Hauptstadtgründung des 20. Jahrhunderts eine Metropole entwickelt, die die Welt in ihren Bann zieht? Hat sich eine ideenreiche, innovative, zukunftsweisende, „offene Stadt“ entwickelt? Oder eher eine Stadt, die ihre Rolle in einem polyzentrischen Europa und ihre realistische Verortung in der Dynamik der Globalisierung erst noch finden muß?
Lettre legt „Berlin“ auf die Couch und möchte „Berlin“ abtasten, abhören, belauschen, vernehmen, Ablagerungen, Überschreibungen und Entsorgungen der Stadt sondieren, soziale Umwälzungen, mentale Besonderheiten und selbstgefällige Verstiegenheiten registrieren, möchte Vermessungen von Architektur und Stadtplanung beschreiben, Versäumnisse und Abwege aufdecken, visionäre Ausrichtungen, Kreativität und die Qualitäten der Stadt aufspüren. Was verraten die Stimmen aus der Geschichte der Stadt, die wir gesammelt haben, und was die Statistiken? Welche Kontinuitäten, welche widerstreitenden Energien werden sichtbar? Wie kann Berlin zu jener kreativen, intelligenten, produktiven Stadt werden, die zu sein es längst behauptet?
Wir hoffen, dieses Experiment hat sich gelohnt. Viel Vergnügen bei der Reise durch die gedanklichen und visuellen Landschaften dieses Heftes wünscht Ihre Lettre-Redaktion.