LI 54, Herbst 2001
Vom Terror zur Apokalypse
Der erste Krieg der Globalisierung und der Krieg der NetzstrategieElementardaten
Genre: Gespräch / Interview
Übersetzung: Aus dem Französischen von Bernd Wilczek
Textauszug
Lettre International: Bereits in Ihrem Text New York im Delirium aus dem Jahre 1993 haben Sie ein Ereignis von der Tragweite der Zerstörung des World Trade Center vorausgesehen, nachdem man damals vergeblich versucht hatte, das Gebäude mit einer im Keller deponierten Sprengladung in die Luft zu jagen. Beinhaltet der jüngste Angriff neue Elemente, die Sie überrascht haben? Während des Golfkrieges sprachen Sie ja schon von der Gefahr einer Konfrontation zwischen einem mystischen Fundamentalismus und einem technologischen Krieg. Jetzt sieht es so aus, als würde sich der Fundamentalismus modernster Technik bedienen. Er nutzt sogar allermodernste Kommunikationsmittel, um sein Zerstörungswerk weltweit per Direktübertragung zu zeigen und den Westen so öffentlich zu demütigen; zugleich setzt er diese Mittel als weltweites Propagandainstrument gegenüber den Muslimen ein.
Paul Virilio: Jedesmal wenn sich der Terrorismus weiter entwickelte, entwickelte er sich in Entsprechung zu den Medien, d.h. in Entsprechung zum Bildschirm der Medien. Der Bildschirm der Medien ist ein Territorium, das von den immer schrecklicheren, immer unvorstellbareren Ereignissen erobert wird. Mit der Zerstörung der beiden Zwillingstürme des World Trade Center wohnen wir tatsächlich einem gewaltigen Ereignis bei, das nichts mehr mit einem traditionellen, begrenzten terroristischen Anschlag zu tun hat, so wie es beispielsweise mit dem Anschlag während der Olympischen Spiele 1972 in München, während des sogenannten "Schwarzen Septembers", der Fall war, sondern es handelt sich bereits um eine Form des großen Terrorismus, das heißt eine Form des akzidentiellen Krieges, den man nicht mehr mit dem Clausewitz’schen Krieg, dem substantiellen Krieg vergleichen kann. Es stimmt, daß sich die Attentäter der modernen Technologie bedient haben, und zwar vor allem moderner Telekommunikationsmittel, um die Aktion synchron durchführen zu können. Das eigentlich Neue bei der Zerstörung des World Trade Center, auch im Vergleich zu New York im Delirium, ist aber, daß es sich hier, nach dem Krach der Netz-Ökonomie im Jahre 2000, dem Krach der Nasdaq, Startups usw. um einen Krach der Netz- Strategie des Pentagon handelt, d.h. um einen Krach der Revolution des Militärwesens, der globalen Informationsdominanz der US-Air Force, der National Missile Defense. Diese ganze Dimension der Netz-Strategie, die die Amerikaner als Revolution des Militärwesens bezeichnen, ist von zwei Passagierflugzeugen ad absurdum geführt worden, die mehr als doppelt so viel Schaden verursacht haben wie die Bomber in Pearl Harbor.
Dieser Anschlag ist deshalb ein vollkommen neues Ereignis, weil er das militärische Denken des Pentagon in Frage stellt. Nach dem Krach an der Wall Street haben wir es hier mit dem Krach des Pentagon zu tun. Die beiden Passagierflugzeuge, die zu Bomben gemacht wurden, sind also gewissermaßen unmittelbar mit der Netz-Ökonomie verbunden, d.h. mit der Entwicklung der neuen Technologien und ihrem Scheitern. Ich erinnere an das Scheitern der Überwachung durch das Echelon-Netz der National Security Agency. Hierbei handelt es sich um ein kapitales Scheitern, und insofern um ein markantes Ereignis für die jetzt beginnende Geschichte. Ich glaube, daß die entwickelten Länder und der militärisch-industrielle Komplex aus diesem Ereignis nicht unversehrt hervorgehen werden.
Hat der Terrorismus eine neue Stufe an Intelligenz und Raffinesse erreicht?
Ganz genau. Wir sind in erster Linie mit einem Krieg, einer neuen Form des Krieges konfrontiert. Bisher gab es zwei Formen des Krieges, denjenigen zwischen Staaten, d.h. den internationalen Krieg und den Bürgerkrieg. Der Krieg zwischen Staaten oder internationale Krieg war ein substantieller Krieg, eine Fortführung der Politik mit anderen Mitteln. Er zeichnete sich aus durch die Organisation eines Schlachtfeldes mit Truppen, Bannern, Fronten, Kriegserklärungen, Waffenstillstandsabkommen usw. Mit den jüngsten Anschlägen wohnen wir der Überschreitung des beschränkten Terrorismus bei und sind in das Zeitalter des akzidentiellen Krieges eingetreten. Und dieser akzidentielle Krieg kann sich mit seiner religiösen Dimension zu einem internationalen Bürgerkrieg ausweiten. Demnach handelt es sich für alle Konfliktforscher, für alle diejenigen, die sich, wie ich es tue, für die Frage das Krieges interessieren, um ein Ereignis von außerordentlich großer Tragweite. Dieses Attentat stellt für den Weltfrieden eine genauso große Bedrohung dar wie dasjenige von Sarajewo im Jahre 1914 für den Frieden in Europa. Dieses Attentat von Sarajewo war der Auslöser für den Ersten Weltkrieg, und dasjenige von New York ist in der Tat genauso bedeutend, weil es den Beginn des ersten Krieges der Globalisierung markiert. Mit allen damit verbundenen Risiken in Bezug auf den Nord-Süd Konflikt, den Konflikt zwischen den religiösen Gruppen usw. Wir befinden uns also in einem akzidentiellen Krieg auf globaler Ebene, und wir haben es mit einem nie dagewesenen Ereignis zu tun, das nicht nur den Krieg im Kosovo und den Golfkrieg weit in den Schatten stellt, sondern vor allem auch den Vietnamkrieg für die Vereinigten Staaten.
(...)
Aus einem Gespräch mit Frank Berberich vom 17. September 2001