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Cover Lettre International 59, Bernd Koberling
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Inhaltsverzeichnis

LI 59, Winter 2002

Des Teufels Bedeutung

(...)  Wir empfinden unser Leben, weil wir wach sind, und in dieser Wachsamkeit des Lebens empfinden wir den Tod; wir empfinden den Teufel, welcher der Todeswille ist; denn wir konnten den Tod nur als einen Willen empfinden, der Gott entgegengesetzt ist, der dem Leben entgegengesetzt ist: als Willen des Teufels. Dieser Wille, der uns bei dem anrührt, was wir empfinden, und bei dem, was wir am tiefsten empfinden, der unser allgemeines Empfindungsvermögen aufteilt, dieser Wille nötigt und bedrängt uns zeitlebens in getrennten Empfindungen: um uns zu täuschen. In unseren unmittelbaren Bewußtseinstatsachen, wie Bergson sie festgestellt hat, können wir dieses geistige Ränkespiel des Teufels unschwer entdecken. Alle unsere lebendigen Verräumlichungen, um es nach Art Bergsons zu sagen, sind die Ketten des Teufels, die uns zu seinen Sklaven machen. Alle geistigen oder rationalen Metaphysiken, die man ersonnen hat, alle metaphysischen Systeme, von dem des Aristoteles bis zu dem Hegels, sind darum im Grunde nichts anderes als Logiken des Teufels.

Um uns zu besiegen, teilt der Teufel unseren allumfassenden menschlichen Lebenssinn in viele andere Sinne auf: Er teilt ihn in alle Sinne auf; und er versucht uns in jedem einzelnen von diesen Sinnen: Das heißt, er rührt uns fühlbar oder unfühlbar an, um uns zu verwirren: um unsere natürliche und übernatürliche Wahrnehmung der Welt zu verwirren. Darum ist die Wahrnehmung der Welt, die wir durch unsere Sinne erhalten, seit Adams Sündenfall eine verworrene Wahrnehmung: eine Wahrnehmung des Teufels; und wir nehmen den Teufel mit unseren Sinnen verworren wahr, weil das erste, was der Teufel in uns bewirkt, ein Sinneseindruck, ein reiner Sinneseindruck ist; Leibniz nannte es eine verworrene Vorstellung (idée confuse); und das ist es tatsächlich, denn in dieser verworrenen Wahrnehmung, die wir zuerst vom Teufel haben, können wir uns noch keine Vorstellung von ihm machen; wir haben noch nicht das, was man eine Vorstellung vom Teufel nennt.

Darum ist es natürlich, daß der Teufel nach dem ausschließlichen Zeugnis der Sinne, die er anrührt, für uns noch keine Wirklichkeit besitzt; daß er keine Wirklichkeit besitzen kann; denn um eine Wirklichkeit zu haben, müßte er in uns zuerst eine Vorstellung – die Wirklichkeit ist eine Sache der Vorstellung – sein, und der Teufel ist für uns keine Vorstellung und kann es auch nicht sein: ebensowenig eine einfache Sache der Vorstellungen für uns; selbst wenn wir eine Vorstellung vom Teufel haben können, erreichen wir das nur, indem wir ihn in unserer Phantasie einheitlich oder einzigartig auffassen oder, wie es Victor Hugo in einem wunderbaren Vers gesagt hat: vom Schatten geeint. Das vielgestaltige Sein – heißt es im Vers Victor Hugos – lebt in meiner finsteren Einheit.

Diese vom Schatten geeinte Vielgestaltigkeit des Seins vermittelt uns eine Vorstellung vom Teufel; keine Wahrnehmung; seine Wahrnehmung kann uns keine Vorstellung vermitteln, sondern nur weitere Wahrnehmungen. Somit könnten wir sagen, daß man den Teufel als vielgestaltig wahrnimmt und ihn sich als einheitlich vorstellt: als einzigartig. Denn eine Sache ist es, einen Sinn für den Teufel zu haben, und eine andere, Kenntnis von ihm zu haben.

Diesen Sinn für den Teufel haben wir jedoch alle: durch das allgemeine Empfindungsvermögen, und das heißt ja vielmehr, daß man ihn gefühlt oder verspürt hat, wie die Mystiker es nannten; daß man die Dämonen mit den Sinnen wahrgenommen hat; denn ihre Wahrnehmung ist, wie ich gesagt habe, vielgestaltig.

Und das geschieht auf so subtile Weise, so schnell, daß es kaum solange wie ein Aufblitzen dauert: Denn genau das ist es, ein Aufblitzen, ein durch die Sinne vermitteltes Funkensprühen, das die Seele in Erregung versetzt. Es ist eine beinahe elektrische Empfindung, und deshalb hat das allgemeine Volksempfinden diese erste Erscheinung der Dämonen in unseren Sinnen oder diese Dämonen, die uns eine solche Empfindung eingeben, mit gutem Grund als die Feuergeister bezeichnet, die uns bei ihrer Berührung erschüttern, und das ist so, als entflammten sie unsere Empfindungen mit Licht. Das sind noch nicht die Teufel im Leib, von denen jeder vollkommen genau weiß, was sie sind. Die Feuergeister sind jene, die noch nicht in den Leib eingedrungen sind: obwohl sie eindringen wollen. Von den Teufeln im Leib haben wir hingegen eine neueste, anmaßende wissenschaftliche Erscheinungsform.

Sie erreichte allgemeine Bekanntheit durch jene Therapie, die von ihrem Entdecker Freud benannt wurde: die Psychoanalyse; man bedient sich ihrer, um die geheimnisvollen psychischen Beziehungen zu erklären, indem man sie auf einen gemeinsamen Nenner zurückführt, der für Freud die Sexualität ist: Da es aber zwischen Sexualität und Sinnlichkeit – habe ich früher einmal gesagt – nur ein X als Unterschied gibt, das die zu bestimmende Unbekannte ist, finden wir, daß diese Unbekannte – das X der Sexualität – sich nur vom Teufel bestimmen läßt: Denn hinter diesem X, wie hinter jedem X, das ein Kreuz ist, kann kein anderer als der Teufel stehen, kann es keinen anderen als einen Teufel geben.

Es ist ja nicht das gleiche, eine Vorstellung vom Teufel zu haben, wie den Teufel wahrgenommen oder einen Sinn für ihn zu haben: einen gewissen Sinn. Man kann keine Vorstellung vom Teufel und doch einen Sinn für ihn haben: wie man auch keinen Sinn für den Teufel und statt dessen eine Vorstellung von ihm haben kann: eine Vorstellung; allerdings nur eine annähernde Vorstellung: Wenn nämlich jemand keinen Sinn für den Teufel hat, so deshalb, weil er ihn nicht gefühlt hat, weil er ihn nie mit seinen Sinnen wahrgenommen hat, ihn, den biblischen Satanas, den Versucher; und wer nicht vom Teufel versucht wurde, kann niemals eine klare Vorstellung von ihm haben. Ich würde beinahe sagen, weder vom Teufel noch von irgend etwas anderem; wenn man nämlich keinen Sinn für den Teufel hat, heißt das einfach, kein allgemeines Empfindungsvermögen zu haben; denn das allgemeine Empfindungsvermögen ist dieser gewisse Sinn – dieser Sinn für das Gewisse –, der uns den Teufel offenbart.

Diesen gewissen Sinn für den Teufel nennt man gewöhnlich Aberglauben, gerade weil er gewiß und nicht zweifelhaft ist. Gerade weil er gewiß und nicht zweifelhaft ist, denn der Aberglaube beruht immer auf dem Gewissen: nie auf dem Zweifelhaften; auf dem Zweifelhaften beruht der Glauben. Es ist nicht möglich, abergläubische Vorstellungen vom Zweifelhaften zu haben, wie man auch nicht an das Gewisse glauben kann; Wenn die Abergläubischen nicht an Gott glauben, haben sie deshalb abergläubische Vorstellungen von Gott: weil sie an den Teufel glauben. Nicht an Gott zu glauben bedeutet, an den Teufel zu glauben: wie es bedeutet, wenn man diesen Glauben hat, daß man nicht an den Teufel glauben kann, sondern eine abergläubische Vorstellung hat, die rechtmäßige abergläubische Vorstellung von ihm oder die einzig rechtmäßige abergläubische Vorstellung, weil sie die einzig authentische ist.

Der Aberglaube beruht immer auf dem Gewissen, weil er sozusagen bedeutet, daß unsere Seele durch unsere Sinne auf etwas Hartes, Unüberwindliches, Undurchdringliches stößt; unsere Augen stoßen auf die Dunkelheit und können sie nicht überwinden: Auf die gleiche Weise stößt unser Leib, alles, was wir als unser Wesen in der Zeit empfinden, auf den Tod: Und wir sind uns des Todes gewiß, obwohl wir nie gestorben sind und auch keine Möglichkeiten haben, vorläufig zu sterben, um unsere Gewißheit nachzuprüfen, die eben deshalb zu einem Aberglauben wird (einer Bestätigung des Unüberwindlichen, das gleichsam eine Gewißheit ist). Darum leben wir, ob wir es nun wissen oder nicht, mit der abergläubischen Vorstellung vom Tod; wie wir auch bewußt oder unbewußt mit der abergläubischen Vorstellung vom Teufel leben; und, was schlimmer ist, mit der abergläubischen Vorstellung von der Hölle, welche die Unsterblichkeit des Teufels ist: und die Unsterblichkeit des Todes.

Der Tod ist das Gewisse: Das Leben ist das Ungewisse, Zweifelhafte: die Unsterblichkeit – habe ich früher einmal gesagt. Man muß also stets das Gewisse für das Zweifelhafte aufgeben. Das Gewisse für das Zweifelhafte aufzugeben heißt, den Tod für das Leben aufzugeben, es heißt, den Teufel für Gott aufzugeben: letztlich den Glauben für die Gewißheit einzutauschen. Man überwindet den Teufelsaberglauben nur durch den Glauben an Gott. Tod, Teufel und Hölle sind drei Negationen, die mit unwiderlegbarer Gewißheit bestätigt werden …

Und welche phantastische Erscheinungsform sie auch annehmen oder selbst wenn sie überhaupt keine Erscheinungsform annehmen; diese drei Negationen werden als Gewißheiten bestätigt, wenn man an nichts zweifelt und wenn man folglich nicht glaubt; wenn man, um an nichts zu zweifeln, an nichts glauben kann; denn an nichts kann man nicht glauben. Darum kann man nur an den Teufel glauben, wenn man Gewißheit über ihn hat: wenn man den Sinn für ihn und die konkrete Kenntnis von ihm hat. Denn man kann an alles glauben, was zweifelhaft ist, was Gott ist; und zwar gerade seiner vielen Zweifel wegen glauben. Aber man kann nicht an nichts glauben: an das, was gewiß ist, den Teufel mit seiner Hölle, die der unsterbliche Tod ist: das einzig wahrhaft Gewisse von allem und bei allem.

Wenn ich sterbe – sagt der Ungläubige, der nichts anderes als ein Leichtgläubiger, der abergläubisch dem Tod Vertrauende ist –, wenn ich sterbe, sterbe ich, und es ist Schluß: nun erweist sich dieses Es ist Schluß als die Wirkung des Teufels; dieses Es ist Schluß, mein Freund, ist ganz einfach die Hölle: eine freiwillige und nicht nur vorgestellte Hölle; eine Hölle als Wille und nicht als Vorstellung; eine nackte, absolute Hölle schlechthin. Die gerade deshalb aus Phantasielosigkeit unvorstellbar ist; denn sie ist eine schlicht und einfach gewisse Hölle, ohne jeden Zweifel, nicht einmal den der geringsten Vortäuschung oder phantastischen Einbildung: eine ideale Hölle; es ist die Hölle der Selbstmörder, welche die Phantasielosen sind, die besten Nachfolger des Teufels. Wenn nämlich jeder, der Selbstmord begeht, das – wie Stendhal gesagt hat – aus Mangel an Phantasie tut, so tut jeder, der sich unsterblich macht, das aus dem gegenteiligen Grund, wegen eines Übermaßes an Phantasie; aus einem Glauben, der in seiner vollkommenen lebendigen Ungewißheit wurzelt: in seinem eigenen glückseligen Leben; in der phantastischen lichtvollen Erscheinung dieses Lebens, die seine Beseelung, seine Seele ist

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.