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Cover Lettre International 66, Miquel Barceló
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Inhaltsverzeichnis

LI 66, Herbst 2004

Soldaten des Lichts

Kinder und Atavismen im Bürgerkrieg von Sierra Leone

Komba Gbanya war bei der Revolutionary United Front (RUF) gewesen und bei den West Side Boys, einer mal auf seiten der Regierung, mal als Aufständische kämpfenden Miliz. Er erzählte von „beaucoup killing, beaucoup, beaucoup", von der Orgie von Brandschatzungen und Verstümmelungen, an der er beteiligt war. Vor seiner Zeit als Kindersoldat hatte er aus Schilfrohr Spielzeugautos gebaut, robuste, geländegängige Fahrzeuge mit hohem Verdeck und schwerem Rammschutz. Er hatte Achsen und Räder zurechtgepfriemelt, aus alten Plastiksandalen Reifen gefertigt. Mit einer am Kühlergrill befestigten Schnur und einem Stöckchen als Griff zog er seine Automobile über die tief zerfurchten unbefestigten Straßen von Koidu, einer Diamantenstadt im Osten des Landes.

Sein Vater hatte stundenweise als Schneider gearbeitet und in der übrigen Zeit nach Diamanten gesucht. Am Stadtrand, wo die Minen lagen, eine wüste Mondlandschaft aus Kratern, war früher Urwald gewesen, dem man mit Hacken, Schaufeln und anfangs gelegentlich sogar mit Bulldozern zu Leibe gerückt war. Das war in der Zeit, bevor die Rebellen die letzten Bulldozer zerstörten und dem Maschinenzeitalter ein Ende bereiteten. Danach wurde die Diamantensuche zu einer Unternehmung, die ausschließlich von Hand betrieben wurde – an der Wende zum 21. Jahrhundert. Kombas Vater hatte nie etwas anderes als Hakke, Schaufel und Sieb zur Verfügung. Es ging ihm wie Tausenden anderen, die den ganzen Tag schweißgebadet und bis zu den Oberschenkeln in khakibraunem, von Parasiten verseuchtem Wasser standen und davon träumten, daß in der nächsten Schaufel Geröll, die sie aus dem Hang der Grube hoben, der eine Stein versteckt lag, der eine Edelstein, der dann zwar einem Landsmann, einem Gambier oder einem Libanesen gehörte – irgend jemandem, der ihnen das Werkzeug gegeben hatte –, dem glücklichen Finder aber einen besseren Tageslohn eintrug, einen Lohn, der für mehr reichte als die Schüssel Reis, für die gewöhnlich gearbeitet wurde. Wie Tausenden anderen auch waren Kombas Vater nur wenige solcher Zahltage beschert.

Als Kombas Vater nach einer Krankheit starb, blieb seine Familie völlig mittellos zurück, und Komba zog zu seiner älteren Schwester in der Hoffnung, sie werde sein Schulgeld aufbringen können. Doch mit dem schmalen Gewinn, den sie als Zigarettenverkäuferin auf der Straße machte, brachte sie kaum ihre eigenen Kinder durch. So kehrte Komba, ohne je ein Klassenzimmer von innen gesehen zu haben, ohne zu wissen, wie alt er war oder welches Kalenderjahr man gerade schrieb, in die Hütte seiner Mutter zurück und fing an, in der Nähe einer Autoreparaturwerkstatt herumzulungern.

Er war ungefähr elf Jahre alt, sah wegen seines schlechten Ernährungszustands aber jünger aus. Der Mechaniker begann sich Sorgen zu machen, daß der zurückgebliebene Junge mit dem breiten Gesicht und den hohen, vorspringenden Wangenknochen von einer Gang Älterer vorgeschickt worden war und das Gelände für einen Raubüberfall auskundschaften sollte. Er wollte wissen, was der Kleine bei ihm zu suchen hatte. Komba brachte kein Wort heraus, so groß war seine Angst vor dem Mann, seine Ehrfurcht vor Autos. Selbst nachdem er sich gefangen hatte, war er zu schüchtern, seine Träume laut auszusprechen. Erst nachdem er sich auf die Zehenspitzen gereckt und der Mechaniker sich zu ihm hinuntergebeugt hatte, flüsterte Komba ihm ins Ohr, was er wollte. So wurde er der jüngste Lehrbursche in der Werkstatt, war aber körperlich so schwach, daß er keine Schraube zu lösen vermochte, ganz gleich, ob er an dem Schraubenschlüssel zerrte oder dagegentrat.

Zunächst wurde er dazu vergattert, Ersatzteile zu putzen. Ein paar Monate später durfte er sich an Ventile und Zündkerzen machen. Und wieder einige Monate später flohen er, seine Mutter und fast die gesamte Einwohnerschaft der Stadt vor einem Angriff der Rebellen. Die RUF-Rebellen überfielen auch das Dorf, in das sie geflüchtet waren, bohrten Komba ein Bajonett in die Wange und zerrten ihn in die eine und seine grauhaarige Mutter in eine andere Richtung – er sollte sie nie mehr wiedersehen. Der Anführer der Rebellen firmierte in ungewöhnlicher Bescheidenheit unter seinem eigenen Namen Christopher (und nicht unter „Superman", „Rambo" oder „Colonel Savage", wie es die anderen Offiziere taten). Christopher verband Komba die Wunde (von der eine Narbe zurückblieb, so tief wie eine kleine Schlucht), machte ihn zu einem Mitglied seiner Termite Squad (was für unaufhörliche Zerstörung stand), übertrug Komba den Sonderauftrag, seinen Rucksack zu schleppen, und trat nach dem Mechaniker an die Stelle, die in Kombas Leben der eines Vaters am nächsten kam. Als Christopher einsah, daß Komba zu schwach war, um eine AK-47 über längere Strecken zu tragen, gab er dem Jungen eine Handfeuerwaffe, eine Beretta. Als Komba schließlich zum ersten Mal einen Menschen töten sollte, befahl Christopher seinen Jungs, einen Gefangenen zu fesseln und festzuhalten, und Komba, ihn zu erschießen. Nach Kombas erstem Kampfeinsatz, den er größtenteils in einem Versteck hinter sich gebracht hatte, entkleidete Christopher den Leichnam eines Kämpfers aus der Einheit der Regierungstruppen und verpaßte Komba eine Uniform. Er sah damit aus, als habe er sich als Clown verkleidet. Doch „He", lächelte Komba, „mir ging's gut." Er war jetzt, wie er sich stolz erinnerte, Soldat.

Christopher brachte ihm bei, wie man jemanden so fesselt – die Arme hinter dem Rücken –, daß der Gefangene, zieht man den Strick an den Ellbogen zusammen, vor Schmerz wimmert. So hatte Christopher auch Komba gefesselt, bevor er ihn dafür auspeitschte, daß er während der Wache eingeschlafen war. Er brachte dem Jungen bei, wie man Dörfer verwüstete bei „Nahrungsbeschaffungs"- Einsätzen, der Allzweckphrase für Überfälle und Plünderungen aller Art. Vor solchen Kampfeinsätzen gab er dem Jungen Tabletten mit unbekannten Wirkstoffen zu essen und streute ihm Kokain in feine Schnitte, die er ihm an den Schultern beigebracht hatte. Danach gab er ihm Suppe zu essen, angedickt mit Körperteilen der Gegner. Und er brachte Komba und den Rest seiner Termiteneinheit zu dem großen Vater Papa Sankoh, als der im Dschungel vor einer Versammlung von Soldaten eine Rede hielt und von einem neuen Sierra Leone sprach, in dem die Armut beseitigt, der Schulbesuch kostenlos wäre und wo, wie er im Rausch der eigenen Versprechungen hinzufügte, jeder Junge richtig Englisch lernen würde. Zuletzt ließ Papa Sankoh seine Truppe die Nationalhymne der RUF absingen, die nicht in Krio oder einem anderen Stammesdialekt abgefaßt war, sondern einen englischen Text hatte, den die ungebildeten Soldaten auswendig konnten: „Sagt's dem Präsidenten, Sierra Leone ist mein Heimatland, / sagt's meinen Eltern, ich komm nicht mehr nach Haus, / ich kämpfe auf dem Schlachtfeld, kämpfe da für immer, / jeder aus Sierra Leone kämpft für sein Land. // Sierra Leone besinnt sich auf seine Kraft, / unsere Bodenschätze nutzen wir jetzt selbst, / die Menschen finden ihr Glück in ihrem eigenem Land, / die RUF ist der Retter, den wir jetzt brauchen. // Sagt's dem Präsidenten, Sierra Leone ist mein Heimatland, / sagt's meinen Eltern, ich komm'  nicht mehr nach Haus, / ich kämpfe auf dem Schlachtfeld, kämpfe da für immer, / jeder aus Sierra Leone kämpft für sein Land. // Die RUF kämpft für die Rettung von Sierra Leone, / die RUF kämpft für die Rettung unserer Menschen, / die RUF kämpft für die Rettung unseres Landes, / die RUF kämpft für die Rettung von Sierra Leone."

In Kombas Augen nahmen sich Sankohs Visionen großartig aus. Doch als er ungefähr 15 war, als sein Körper allmählich kräftiger geworden war und seine Wangenknochen ein feines Polster aus Fleisch bekommen hatten, stellte er sich gegen Christopher und verließ die RUF. Der Anlaß dafür war ein Mädchen, das Komba von der Nahrungsbeschaffung mitgebracht hatte, ein hübsches Mädchen, das er hinter einem Haus aufgespürt hatte, wo es sich versteckte. Er brachte sie seinem Kommandanten als Geschenk, der sie, wie in Kriegszeiten üblich, per Vergewaltigung zu seiner Frau erklärte. Weil sie hübsch war, machte Christopher sie zu seinem Haushaltsvorstand, zu seiner Mammy Queen. Und Komba, der immer noch schmächtige, wurde auf einmal wie ein Kind behandelt und gedemütigt von dem Mädchen, das er selbst gefangengenommen hatte. Sie befahl ihm, beim Kochen zu helfen, schickte ihn Wasser holen, alles Dinge, die inzwischen unter seiner Würde waren, und als er sich weigerte und Christopher ihn deshalb auspeitschen wollte, schlug er zurück, und es gelang ihm weglaufen. Er landete bei den West Side Boys, einer Miliz, bestehend aus Regierungssoldaten und Dahergelaufenen aller Art. Ihre Spezialität waren aus dem Hinterhalt ausgeführte Überfälle auf Busse, die auf der Hauptverkehrsstraße eine Stunde östlich von Freetown verkehrten. Schon bald führte Komba hier eine eigene kleine Einheit an und war seinerseits zur Vaterfigur geworden.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.