LI 33, Sommer 1996
Reisen der Erleuchtung
Jenseits des Tourismus - zu den Pforten der WahrnehmungElementardaten
Textauszug
"Wo eine Karawane auch hinziehen mag, ihr Mekka ist stets die Liebe."
Jalaloddin Rumi
Früher gab es keinen Tourismus. Noch heute ziehen Scherenschleifer, Kesselflicker und andere echte Nomaden nach Belieben durch ihre Welt, aber niemand käme deshalb auf den Gedanken, sie als Touristen zu bezeichnen.
Der Tourismus ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts, einer Epoche, die sich mitunter zu abnormer Länge auszudehnen scheint. In vielerlei Hinsicht leben wir heute noch immer im 19. Jahrhundert.
Der Tourist ist auf der Suche nach Kultur, weil - in unserer Welt - die Kultur im Schlund des Spektakels verschwunden ist; weil die Kultur zerstört und durch das Einkaufszentrum und die Talk-Show ersetzt worden ist; weil unsere Erziehung nichts weiter ist als die Vorbereitung auf ein Leben, das aus Arbeiten und Konsumieren besteht; weil wir aufgehört haben, selber sch pferisch tätig zu sein. Obwohl Touristen in der Natur oder in der Kultur physisch präsent zu sein scheinen, k nnte man sie ohne weiteres als Gespenster bezeichnen, die ohne körperliche Anwesenheit in Ruinen herumgeistern. Sie sind nicht wirklich da, sondern bewegen sich eher durch eine imaginäre Landschaft, eine Abstraktion ("Natur", "Kultur"), wobei sie hauptsächlich Bilder, aber so gut wie keine Erfahrungen sammeln. Ihre Urlaube finden allzu oft inmitten des Elends anderer Menschen statt und tragen sogar noch zu diesem Elend bei. Vor kurzem wurden in ƒgypten einige Menschen bloþ deshalb umgebracht, weil sie Touristen waren. Sch ne neue Welt! Tourismus und Terrorismus: doch wo liegt da der Unterschied?
Welches der drei archaischen Reisemotive - man kann sie mit "Krieg", "Handel" und "Pilgerreise" umschreiben - mag den Tourismus hervorgebracht haben? Natürlich die Pilgerreise, würden manche von uns spontan antworten. Der Pilger begibt sich "nach dort", um etwas zu sehen; der Pilger kehrt in der Regel mit einem Andenken heim; der Pilger gestattet sich eine "Unterbrechung" seines normalen Alltagsleben; die Absichten des Pilgers sind immaterieller Natur. Insofern nimmt der Pilger den Touristen vorweg.
Aber der Pilger macht eine Bewußtseinsveränderung durch, die für ihn real ist. Die Pilgerreise ist eine Form der Initiation, und Initiation bedeutet ein Sich-Öffnen für andere Formen der Erkenntnis.
Den wahren Unterschied zwischen Pilger und Tourist können wir zumindest ansatzweise entdecken, wenn wir vergleichen, was beide an den von ihnen besuchten Orten bewirken. Die Veränderungen eines Ortes - einer Stadt, eines Heiligtums, eines Waldes - mögen schleichend sein, doch sie lassen sich zumindest beobachten. Über den Zustand der Seele kann man nur Vermutungen anstellen, doch über den Zustand des Sozialen läßt sich vielleicht einiges sagen. Wallfahrtsorte wie Mekka können als große Handelsbasare oder gar als Produktionszentren dienen (etwa Benares und seine Seidenindustrie), doch ihr eigentliches "Produkt" ist baraka oder mana. Diese Begriffe (der erste ist arabisch, der zweite polynesisch) werden gewöhnlich mit "Segen" übersetzt, haben aber ein weitaus gr ßeres Bedeutungsspektrum.
Der umherziehende Derwisch, der direkt neben einem Heiligtum übernachtet, um von einem toten Heiligen zu träumen (von einem der "Bewohner der Gruft"), sucht Initiation oder Fortschritte auf seinem spirituellen Weg; eine Mutter, die ihr krankes Kind nach Lourdes bringt, sucht Heilung; eine kinderlose Marokkanerin hofft, daß der Marabut sie fruchtbar machen werde, wenn sie einen Stoffetzen an den alten Baum knotet, der aus seinem Grab wächst; der Mekka-Reisende sehnt sich nach dem buchstäblichen Zentrum seines Glaubens, und wenn die Karawanen die Heilige Stadt am Horizont auftauchen sehen, dann ruft der hajji ein lautes "Labbaka Allahumma!" - "Da bin ich, oh Herr!"
All diese Motive stecken in dem Wort Baraka, das einem gelegentlich wie eine konkrete Substanz vorkommt, die sich in Form von gr ßerem Charisma oder "Glück" manifestiert. Das Heiligtum produziert Baraka. Und der Pilger nimmt es mit. Aber "Segen" ist ein Produkt der Einbildungskraft - wie viele Pilger ihn auch mitnehmen m gen, es wird immer genug davon geben. Und das ist noch nicht alles: Je mehr Segen sie mitnehmen, desto mehr kann das Heiligtum produzieren (da ein vielbesuchtes Heiligtum mit jedem erhörten Gebet wächst).
Baraka als "imaginär" zu bezeichnen, bedeutet nicht, es als "unwirklich" abzuqualifizieren. Für diejenigen, die Baraka empfinden, ist es durchaus wirklich. Aber geistige Güter gehorchen nicht, so wie materielle Güter, den Gesetzen von Angebot und Nachfrage. Je größer die Nachfrage nach geistigen Gütern, desto größer das Angebot. Der Produktion von Baraka sind keinerlei Grenzen gesetzt.
Der Tourist sehnt sich nicht nach Baraka, sondern nach kultureller Differenz. Der Pilger - so könnte man sagen - verläßt die "weltliche Sphäre" seiner Heimat und begibt sich in die "heilige Sphäre" der Wallfahrtsstätte, um die Differenz zwischen Weltlichem und Heiligem zu erfahren. Doch diese Differenz bleibt dem "profanen" Blick verborgen: Sie ist unfaßbar, subtil und unsichtbar, geistig und imaginär, während die kulturelle Differenz meßbar ist, offenkundig, sichtbar, materiell, ökonomisch und sozial.
Die Phantasie der kapitalistischen "Ersten Welt" ist verbraucht. Es gelingt ihr nicht mehr, sich etwas anderes vorzustellen. Deshalb verläßt der Tourist die homogene Sphäre seiner "Heimat" zugunsten der heterogenen Sphäre "fremder Gefilde": nicht, um einen Segen zu empfangen, sondern einfach, um das Pittoreske zu bestaunen, den bloßen Anblick der Differenz oder den Schnappschuß davon, um die Differenz zu sehen. Der Tourist konsumiert Differenz.
(...)
Man kauft Tourismus ... und bekommt nichts als Bilder. Der Tourismus ist, wie die Virtuelle Realität, eine Form von Gnosis, von Körperfeindlichkeit und Körperüberwindung. Der ultimative touristische "Trip" wird im Cyberspace stattfinden, als Cybergnosis - ein Trip zum Paranirvana und zurück, in der Bequemlichkeit Ihres ganz privaten, heimischen "Arbeitsplatzes": Klinken Sie sich ein und lassen Sie die Erde hinter sich zurück!
Das bescheidene Ziel dieser kleinen Abhandlung besteht darin, jenen Individualreisenden anzusprechen, der sich dem Tourismus widersetzen möchte. Obwohl wir es am Ende vielleicht nicht schaffen werden, uns und unsere Reisen von jedem Makel und allen Spuren des Tourismus "reinzuwaschen", glauben wir dennoch, daß eine gewisse Läuterung möglich ist.
Wir verabscheuen den Tourismus wegen seiner Banalität und Ungerechtigkeit und möchten daher jeder (bewußten oder unbewußten) Berührung mit seiner ansteckenden Bösartigkeit aus dem Weg gehen.
Doch das ist noch längst nicht alles: Wir möchten das Reisen als einen Akt der Gegenseitigkeit begreifen, nicht als einen Akt der Entfremdung. Oder, anders formuliert: Wir möchten nicht bloß die negativen Aspekte des Tourismus vermeiden, sondern darüber hinaus ein positives Reisen verwirklichen, das wir uns vorstellen als eine schöpferische und gegenseitig befruchtende Beziehung zwischen unserem Selbst und dem Anderen, zwischen Gast und Gastgeber - als eine Form von interkultureller Synergie, bei der das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.
Wir möchten herausfinden, ob das Reisen im Einklang mit einer geheimen ÷konomie des Baraka stattfinden kann, bei der nicht nur das Heiligtum, sondern auch der Pilger in der Lage ist, "Segen" zu spenden.
Vor dem "Zeitalter der Ware" existierte das "Zeitalter der Gabe", eine Welt der harmonischen Gegenseitigkeit, des Gebens und Empfangens. Das wissen wir aus den Berichten einiger Reisender, die bei bestimmten Eingeborenenstämmen Ðberbleibsel aus der Gabengesellschaft entdeckt haben, in Form des Potlatsch oder als rituellen Austausch, und die die von ihnen beobachteten, sonderbaren Praktiken schriftlich festhielten.
Bis vor kurzem gab es bei Südseeinsulanern noch den Brauch, ohne Kompaß und Sextant, mit einem einfachen Auslegerboot, gewaltige Entfernungen zurückzulegen, um nach einem komplizierten Schlüssel einander überschneidender Gegenseitigkeiten von Insel zu Insel wertvolle, aber völlig nutzlose Geschenke (kultische, mit Mana gesättigte Artefakte) auszutauschen.
Obwohl das Reisen in der modernen Welt völlig von der Ware vereinnahmt und das Netz der unbeschwerten Gegenseitigkeit von der Landkarte verschwunden scheint - obwohl der Tourismus triumphiert zu haben scheint -, vermuten wir, daß es noch immer andere Wege gibt, andere Routen, inoffizielle, nicht auf der Landkarte verzeichnete, vielleicht sogar "geheime" Pfade, die unverändert mit der Möglichkeit einer Ökonomie der Gabe verknüpft sind, Schmugglerpfade für Freigeister, die nur den geomantischen Guerillas der Kunst des Reisens vertraut sind.
Tatsächlich vermuten wir das nicht nur: Wir wissen es! Wir wissen, daß es eine Kunst des Reisens gibt. Die größten und einfallsreichsten Praktiker der Kunst des Reisens waren vielleicht die Mystiker des Islam, die Sufis. Vor dem Zeitalter der Reisepässe, Schutzimpfungen, Fluggesellschaften und etlicher anderer Beschränkungen des freien Reisens zogen die Sufis unbeschwert durch eine Welt, in der die Grenzen wegen des Transnationalismus des Islam und der kulturellen Einheit der dar al-Islam, der islamischen Welt, in der Regel viel durchlässiger waren als heute.
Die großen islamischen Reisenden des Mittelalters, Männer wie Ibn Battuta oder Naser Khusraw, haben schriftliche Zeugnisse ihrer ausgedehnten Reisen hinterlassen, die sie von Persien nach Ägypten oder sogar von Marokko bis nach China führten, ohne daß sie jemals von der ihnen vertrauten Umgebung aus Wüsten, Kamelen, Karawansereien, Basaren und Frömmigkeit Abschied nehmen mußten. Wie holperig auch immer, irgendwer sprach schon Arabisch, und die islamische Kultur war, wie oberflächlich auch immer, bis in die entlegensten Provinznester vorgedrungen. Liest man die Geschichten über Sindbad den Seefahrer (in Tausendundeine Nacht), kann man den Eindruck bekommen, daß selbst die Terra incognita - trotz all ihrer Wunder und Merkwürdigkeiten - auf gewisse Weise vertraut, irgendwie islamisch gewesen sein muß. Innerhalb dieser Einheit, die zu jener Zeit noch keine Einheitlichkeit war, bildeten die Sufis eine besondere Kaste von Reisenden. Keine Krieger, keine Kaufleute und auch nicht mit normalen Pilgern gleichzusetzen, repräsentieren die Derwische eine Vergeistigung reinen Nomadentums.
Nach Ansicht des Koran ist Gottes große Erde und alles auf ihr "heilig" ... nicht bloß als Schöpfung Gottes, sondern weil die materielle Welt voller "Wegmarken" oder Zeichen der göttlichen Wirklichkeit ist. Außerdem wurde der Islam selbst zwischen zwei Reisen geboren, zwischen Mohammeds hijra ("Flucht") von Mekka nach Medina und seiner haji, seiner Rückkehr. Noch heute ist die Haji für jeden Muslim die Bewegung hin zum Ursprung und Mittelpunkt, und die jährliche Pilgerreise ist nicht bloß für die religiöse Einheit des Islam, sondern auch für seine kulturelle Einheit von entscheidender Bedeutung gewesen.
Die Person Mohammeds bietet ein gutes Beispiel für alle Reisen in der Welt des Islam: in seiner Jugend als Kaufmann mit den Sommer- und Winterkarawanen aus Mekka; seine Feldzüge als Krieger; sein Triumphzug als demütiger Pilger. Mohammed mag ein in der Stadt verwurzelter Führer gewesen sein, er war aber auch der Prophet des Beduinen und selber so etwas wie ein Nomade, ein "Gast" - eine "Waise". Aus diesem Blickwinkel kann man das Reisen beinahe als Sakrament ansehen. Jede Religion heiligt auf irgendeine Weise das Reisen, doch der Islam wäre ohne das Reisen einfach nicht vorstellbar.
Der Prophet sagt: "Sucht, wo ihr könnt, nach Wissen, und sei es im fernen China." Von Anfang an hat der Islam das Reisen über alle "weltlichen" Nützlichkeitserwägungen gehoben und ihm eine epistemologische oder gar gnostische Dimension zugesprochen. "Ein Edelstein, der nie die Mine verläßt, wird nie geschliffen", heißt es bei dem Sufi-Dichter Saadi. "Erziehen" bedeutet "nach draußen führen", dem Schüler eine Perspektive eröffnen, die über seinen Gesichtskreis und über reine Subjektivität hinausweist.
Manche Sufis mögen bei ihren Reisen nie die imaginäre Welt archetypischer Träume und Visionen verlassen haben, aber viele von ihnen haben die Ermahnungen des Propheten mehr oder weniger wörtlich genommen. Selbst heute noch ziehen Derwische in der islamischen Welt umher - doch bis ins späte 19. Jahrhundert waren sie in regelrechten Horden unterwegs, Hunderte oder Tausende auf einmal, und dabei legten sie große Entfernungen zurück, immer auf der Suche nach Wissen und Erkenntnis. Inoffiziell gab es zwei Grundtypen des umherreisenden Sufis: den Typ des "Gentleman-Gelehrten" und den bettelnden Derwisch. Zur erstgenannten Kategorie zählten Ibn Battuta (der Sufi-Initiationen sammelte wie früher manche abendländischen Herren Freimaurergrade) und - auf einem viel ernsthafteren Niveau - der "Größte Scheich", Ibn Arabi, der im 13. Jahrhundert in aller Ruhe von seinem Geburtsland Spanien über Nordafrika durch Ägypten nach Mekka und schließlich bis Damaskus reiste.
Ibn Arabi hinterließ in seinem umfangreichen Schriftgut hier und da Berichte über seine Suche nach Heiligen und die dabei erlebten Abenteuer, aus denen man ohne weiteres eine rihla, einen "Reisetext" (ein anerkanntes Genre der islamischen Literatur), oder seine Autobiographie zusammenstellen könnte. Gewöhnliche Gelehrte begaben sich auf Reisen, um nach seltenen Texten über Theologie oder Jurisprudenz zu suchen, doch Ibn Arabi forschte ausschließlich nach den größten Geheimnissen der Esoterik und den entlegensten "Öffnungen" zur Welt der göttlichen Erleuchtung. Für ihn war jede "Reise zu den äußeren Horizonten" immer auch eine "Reise zu den inneren Horizonten" von spiritueller Psychologie und Gnosis.
Allein über die Visionen, die er in Mekka hatte, verfaßte er ein zwölfbändiges Werk (Die Offenbarungen von Mekka). Außerdem hinterließ er uns köstliche Kurzporträts von Hunderten seiner Zeitgenossen: von den bedeutendsten Philosophen der Epoche bis zu demütigen Derwischen und "Wahnsinnigen", von anonymen weiblichen Heiligen bis zu "geheimen Meistern". Ibn Arabi hatte eine besondere Beziehung zu Khezr, dem unsterblichen und unbekannten Propheten, dem "Grünen Mann", der wandernden Sufis hin und wieder in gefährlichen Situaiionen erscheint, um ihnen einen Weg aus der Wüste zu weisen oder um sie zu initiieren. Khezr könnte als der Schutzpatron der reisenden Derwische bezeichnet werden - und als ihr Prototyp. (Im Koran tritt er zum ersten Mal in Erscheinung als geheimnisvoller Wanderer und Begleiter des Moses in der Wüste.)
Im Christentum gab es einmal ein paar Orden umherreisender Bettelmönche (es ist verbürgt, daß der heilige Franziskus einen derartigen Orden gründete, nachdem er im Heiligen Land die Bekanntschaft von Derwischen gemacht hatte, die ihm vielleicht sogar einen "Initiationsmantel" überreicht haben - das berühmte Gewand aus Flicken, das er bei seiner Rückkehr nach Italien trug), doch der Islam hat Dutzende, wenn nicht gar Hunderte vergleichbarer Orden hervorgebracht.
(...)