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Cover Lettre International 39, Thomas Hornemann
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Inhaltsverzeichnis

LI 39, Winter 1997

Utopischer Blues

Selbst im Himmel werden Harfenspieler noch betrunken sein...

Warum genießen die Musiker in "Hoch"-Kulturen so häufig ein so niedriges Ansehen? In Indien zum Beispiel schwebt die Kaste der Musiker fast am Rande der Unberührbarkeit. Das niedrige Ansehen hängt in den Vorstellungen vieler Menschen mit dem immer wiederkehrenden Gebrauch verbotener Rauschmittel zusammen. Nach dem Einfall des Islam konvertierten viele Musiker, um dem Kastensystem zu entgehen. (Die Dagar-Brüder aus Kalkutta, berühmt wegen ihrer Darbietung heiliger Hindu-Musik, erklärten mir stolz, ihre Familie sei nicht schon in der Mogul-Zeit konvertiert - um weltlicher Vorteile willen -, sondern erst viel später, und dann zum Schiismus; dies bewies, daß es ihnen mit ihrem Übertritt ernst war.)

Auch in Irland genossen die Musiker den gleichen indoeuropäischen Ruf der Minderwertigkeit. Die Barden oder Dichter standen auf gleicher Stufe mit dem Adel oder sogar dem königlichen Haus, aber die Musiker waren nur die Diener der Barden. In Dumézils dreiteiliger Struktur der indoeuropäischen Gesellschaft, wie sie sich in Irland darstellt, scheint die Musik eine mehrdeutige vierte Zone zu besetzen, symbolisiert in der vierten Provinz Munster, dem "Süden". So kommt die Musik in Zusammenhang mit "dunklem" Druidentum, sexueller Freizügigkeit, Schwelgerei, ewigem Nomadentum und anderen Merkmalen des Außenseiters.

Vom Islam glaubt man gemeinhin, er "verbiete" die Musik; das ist offensichtlich nicht richtig, da so viele indische Musiker konvertierten. Der Islam hat ernste Vorbehalte gegenüber der Kunst im allgemeinen, weil alle Kunst uns potentiell in der Mannigfaltigkeit verstrickt (Erweiterung in Raum und Zeit), statt uns an die Einheitlichkeit (tawhid) zu binden, in der der Islam sein gesamtes geistiges Projekt definiert. Der Prophet kritisierte weltliche Poesie; er kritisierte den Realismus in der Kunst; und er beschränkte die Musik auf gesellschaftliche Anlässe wie Hochzeiten. (In islamischen Gesellschaften sind die Musiker, die solche Festmusik spielen, häufig Juden oder stehen auf andere Weise "außerhalb" des Islam.)

In Reaktion auf diese Kritik entwickelte die islamische Kultur "rechtgläubige" Formen der Kunst: Sufi-Poesie (die weltliche Genüsse zu mystischer Ekstase sublimiert); und Sufi-Musik, die die Mannigfaltigkeit verwendet, um den Hörer zur Einheitlichkeit zurückzuführen, um "mystische Zustände" zu erzeugen. Aber diese Korrektur der Künste hat den Musiker niemals völlig aus seiner niedrigen Stellung befreien können. In den siebziger Jahren hatte einer der dekadenteren Sufi-Orden (Safi-Ali-Shahi) in Teheran die Mehrheit der Berufsmusiker in seinen Reihen organisiert, und bei ihren Treffen rauchten sie Opium.

Andere Musiker waren als starke Trinker oder sonstige Bohemien-Typen bekannt - die wenigen Ausnahmen waren fromme Sufis in anderen, disziplinierteren Orden, wie dem Nematollahiyya oder Ahl-i Haqq. In der Levante sickerte die türkische Musik aus den teekes in die Tavernen hinüber, mischte sich mit griechischen und anderen Einflüssen aus dem Mittelmeerraum und brachte das wunderbare Genre des Rembetiko hervor, mit seinen witzigen Oden an Huren, Haschisch, Wein und Kokain.

In den Ritualen afro-amerikanischer Religionen wie Santeria, Voodoo und Candomblé sind die überragend wichtigen Trommler und Musiker häufig nicht eingeweihte, von der Kongregation angeheuerte Berufsmusiker - zweifellos eine Spiegelung des quasi-nomadischen Spielmanns-Status der Musiker in den hoch entwickelten pastoral-agrikulturellen Gesellschaften Westafrikas.

Das traditionelle Christentum legt auf die Musik großen Wert, aber nur geringen Wert auf die Musiker. Manche Zweige des Protestantismus versuchten die Berufsmusiker überhaupt auszuschließen, aber Lutheranismus und Anglikanismus setzten sie ein. Kirchenmusiker galten gewöhnlich als gottlose Bande, eine Vorstellung, die noch immer weiterlebt in dem Ruf der Chorsänger, Chordirigenten und Organisten, sie seien besonders unanständig. Thomas Weelkes (1576-1623) stellt den Archetypus dar: brillant, aber erratisch (von Ezra Pound zu Recht gerühmt wegen seiner wunderbaren arhythmischen Vertonungen "kadenzierter Prosa"). Weelkes verlor seinen Posten an der Kathedrale von Chichester, weil er als "notorischer Flucher und Gotteslästerer" und Trunkenbold galt, der (nach mündlicher Überlieferung) den Bogen überspannte, als er über das Orgelgeländer hinweg dem Dekan auf den Kopf pißte.

Das Christentum und die afro-amerikanische Geistigkeit gemeinsam brachten die "spiritistischen" Kirchen hervor, bei denen die Musik die Struktur des Gottesdiensts bildet und die Kongregation den Rang "professionellen" Künstlertums erreicht. Die Mehrdeutigkeit dieser Beziehung zeigt sich in den Verknüpfungen zwischen heiligem Gospel und weltlichem Blues, der Außenseiter-Musik der Kneipen, und dem Jazz, der Musik des Bordells (schon das Wort beschwört reine Sexualität herauf). Die musikalischen Formen sind sehr nahe verwandt - der Unterschied liegt im Musiker, der sich wie gewöhnlich am Rande aufhält, im Zwischenreich zwischen dem Unheimlichen und dem Rausch des Schamanen.

In all diesen Fällen stellt die Musik selbst die höchste Geistigkeit der Kultur dar. Da Musik "körperlos" und metalinguistisch (oder metasemantisch) ist, wird sie immer (metaphorisch oder tatsächlich) zum höchsten Ausdruck der reinen Phantasie als Träger des Geists. Der niedrige Status des Musikers steht in Beziehung zu der als gefahrvoll empfundenen Musik, zu ihrer Mehrdeutigkeit, ihrer Eigenschaft der Unbestimmbarkeit, ihrer Manifestation als Niedriges wie als Erhabenes - als Genuß. Musik als Vergnügen steht nicht im Zusammenhang mit dem Geist (oder gereinigten Elementen des Geistes), sondern mit dem Körper. Die Musik ersteht aus dem (unartikulierten) Körper und wird vom Körper empfangen (als Schwingung, als Sexualität).

Der logos selbst muß (im Gesang, zum Beispiel im Koran, im Kirchengesang etc.) aus genau dem gleichen somatischen Grund musikalischen Ausdruck erhalten, nämlich dem Einfluß des Körpers auf den Geist (durch "Seele" oder Psyche - Phantasie). Gesang ist Musik, die den Körper sublimiert.

Paradox: was "heilig" ist, ist "verboten" (wie in dem arabischen Wort haram, das je nach dem Kontext heilig oder verboten bedeutet). Wie Bataille hervorhebt, entstehen sowohl Heiligkeit als auch Verstoß aus dem Zerbrechen der "vertrauten Ordnung", der Trennung des Menschlichen von der Natur. Der "ursprüngliche" Ausdruck dieses gewalttätigen Bruchs ist zweifellos musikalisch - wie bei den Mbutu-Pygmäen, die als Kollektiv die Musik des Waldes als Ausdruck ihrer (jedoch getrennten) Nähe zur Wildnis hervorbringen. Als Folge dieses "ersten" Ausdrucks entwickelt sich eine weitere Trennung: der Musiker bleibt der Gewalt des Bruchs mit der vertrauten Ordnung auf besondere Weise verbunden und gilt daher als unheimlicher Mensch (wie die Hexe oder der Schmied).

Der Musiker tritt in einer nicht-hierarchischen Gesellchaft von Jäger/ Sammlern als Spezialist hervor, und er beginnt die Merkmale des Tabus so weitgehend auf sich zu vereinen, daß die ungeteilte Kultur des Stammes oder das "kollektive Ich" durch diese Trennung oder Umwandlung verletzt wird. Die ungeteilte Kultur (wie die der Mbutu) kennt in diesem Sinne keinen "Musiker", sondern nur Musik. Sobald die Teilung und dann die Hierarchie in der Gesellschaft auftreten, wird die Position des Musikers problematisch. Wie die "primitive" Gesellschaft wollen auch diese hierarchischen "traditionellen" Gesellschaften im Kern ihrer Kultur einen Hauch des Ungebrochenen bewahren. Wenn die Gesellschaft vielfältig ist, wird die Kultur einen gegenwirkenden Zusammenhalt bewahren, der das Merkmal der ursprünglichen geheiligten Ordnung des Vertrauten ist, ausgedehnt in die tiefsten geistigen Bedeutungen der Gesellschaft, und somit bewahrt. Soviel zur Musik - aber wie steht es mit dem Musiker?

Die hierarchische Gesellschaft verharrt relativ ungeteilt, indem sie die Spezialisierungen sakralisiert. Die Musik, soweit sie körperlos ist, kann Merkmal der oberen Kaste sein (ihre "Geistigkeit") - aber insoweit sie aus dem Körper hervorgeht (sie ist sublimiert - sie "steigt auf"), muß der Musiker (Urheber/Ursprung der Musik) durch den Körper symbolisiert werden und ist daher "niedrig". Musik ist geistig - der Musiker ist körperlich. Die Geistigkeit des Musikers ist niedrig, aber auch mehrdeutig, indem sie Höhe hervorbringt. (Drogen treten an die Stelle der priesterlichen rituellen Höhe, um den Musiker in eine Höhe zu treiben, in der er ästhetische Höhe hervorzubringen vermag.)

Der Musiker ist nicht nur niedrig, sondern auch unheimlich - nicht nur niedrig, sondern "Außenseiter". Die Macht des Musikers in der Gesellschaft ähnelt in ihrer Beziehung zum Wilden der Macht des Zauberers - des außenstehenden Schamanen. Und dennoch bringen gerade diese hierarchischen Gesellschaften "nahtlose" Kulturen hervor - einschließlich Musik. Dies gilt - in der westlichen Tradition - sogar noch nach dem Bruch zwischen der "Identität" der Melodie und der "Verdopplung" der Harmonie. Und man beachte die reziproke Beziehung zwischen hoher und niedriger Musik - die verschiedenen Messen im Western Wynde, nach einer beliebten Melodie vertont; der Einfluß der Melismatik auf das Madrigal; die Pop-Einflüsse auf Rumi und andere Sufis. Die Mehrdeutigkeit der Musik gestattet es ihr, zwischen hoch und niedrig zu schweben und dennoch ungeteilt zu bleiben. Dies ist "Tradition". Sie schließt das Subversive mit ein, indem sie den Musiker (und ganz allgemein den Künstler) ausschließt und ihm zugleich doch Macht einräumt.

So erlangte zum Beispiel der niedrige Musiker Tansen am kunstbesessenen Hof der Mogule das Äquivalent des aristokratischen Status; und Zeami (der große Dramatiker des No-Theaters in Japan, einer Art Oper) stieg, obwohl er der unberührbaren Kaste der Schauspieler und Musiker angehörte, zu höchster Verfeinerung auf, weil der Shogun sich in ihn verliebte, als er dreizehn Jahre alt war; zum Entsetzen des Hofes teilte der Shogun sein Essen mit Zeami und räumte dem No-Theater Hofrang ein.

Für den Musiker läßt sich die Macht der Inspiration in die Macht der Macht übertragen. Man denke zum Beispiel an die türkischen Janitscharen, die kaiserliche Garde der Ottomanen, die allesamt dem heterodoxen (weintrinkenden) Bektashi Sufi-Orden angehörten und die marschierende Militärkapelle erfanden. Will man nach den europäischen Berichten über diese Janitscharen-Kapellen urteilen, die stets von dem reinen Entsetzen berichteten, das sie einflößten, so entdeckten diese Musiker eine Art psychologischer Kriegsführung, die dieser recht zweifelhaften Gruppe, die aus Sklaven des Sultans bestand, mit Sicherheit großes Prestige verlieh.

Traditionelle Musik bleibt immer befriedigend (selbst wenn sie nicht "inspiriert" ist), weil sie ungebrochen bleibt - hohe und niedrige Tradition sind die gleiche "Sache". Indische Blaskapellen - Mozart - das gleiche Universum. In Mozarts eigenem Charakter (wie er sich in seinen Diener-Charakteren, etwa Leporello, spiegelt) entdecken wir erneut die Figur des Außenseiters, des zigeunernden Wunderkinds, das Spielzeug der Aristokraten, mit einer starken Beziehung zur niederen Kultur der Biergärten und bäuerlichen Holzschuhtänze und einer Neigung zu bohemienhaften Exzessen.

Der Musiker ist auf gewisse Art "grotesk" - ungehorsamer Diener, Trinker, nomadisch, brillant. Für den Musiker ist der perfekte Augenblick der des Festes, die auf den Kopf gestellte Welt, die Saturnalien, wenn Diener und Herren für einen Tag die Rollen tauschen. Das Fest ist nichts ohne den Musiker, denn er gebietet über die momentane Umkehrung - und somit Versöhnung - aller geteilten Funktionen und Kräfte in der traditionellen Gesellschaft. Musik ist das perfekte Merkmal des Festes, und damit des von Bachtin gefeierten "materiellen körperlichen Prinzips". Im Rausch der Geselligkeit im Karneval ersteht die Musik als eine Art utopische Struktur oder prägende Kraft - Musik wird zur reinen "Ordnung des Vertrauten".

Am Tag darauf jedoch kommt die durchbrochene Ordnung wieder an die Macht. Schon die Dialektik allein (wenn nicht die "Geschichte") demonstriert, daß eine ungeteilte Kultur nichts ungemischt "Gutes" ist, insoweit sie eine geteilte Gesellschaft voraussetzt. Wo die Hierarchie noch nicht vorkommt, gibt es auch keine Musik, die von der restlichen Erfahrung getrennt wäre. Sobald Musik zu einer eigenständigen Kategorie wird (parallel zur Kategorisierung der Gesellschaft), hat ihre Entfremdung auch schon begonnen - von daher der Auftritt des Spezialisten, des Musikers, und das Tabu auf dem Musiker.

Da sich unmöglich bestimmen läßt, ob Musik heilig oder profan ist (dies das wahrgenommene Wesen der gesellschaftlichen Teilung), dient dieses Tabu dazu, die Risse zu füllen (und die "Ungebrochenheit" der Tradition zu wahren), indem der Musiker als sowohl heilig wie profan gilt. Im Endeffekt bedenkt die hierarchische Gesellschaft alle Kasten/Klassen mit Strafen wegen ihrer gemeinsamen Schuld an der Verletzung der vertrauten Ordnung. Priester und Könige sind von Tabus umgeben - Keuschheit, das Opfer des Frühlingskönigs, etc. Die Strafe des Künstlers liegt in seinem Schicksal als einer Art Ausgestoßenem, der paradoxerweise zu den höchsten Funktionen der Gesellschaft in Beziehung steht. Man beachte, daß der Dichter in diesem Sinne kein "Künstler" ist und seine Stellung halten kann, weil die Poesie logos ist, der Offenbarung verwandt. Poesie erhebt in traditionellen Gesellschaften (zum Beispiel Irland) den Anspruch, "aristokratisch" zu sein. Interessanterweise hat die moderne Welt diese Polarität in Geldbegriffen umgekehrt, so daß der Maler und Musiker "niedriger Kaste" heutzutage wohlhabend ist und somit in einer "höheren" Stellung als der unbelohnte Dichter.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.