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Cover LI 141
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LI 141, Sommer 2023

Wilde Welt der Musik

Die unbekannte akustische Welt und die Harmonie der Sphären

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Soldier hat zwei Seelen in seiner Brust. Als Komponist und Violinist mag er Musik nicht zu eng definieren. Viel lieber mischt er die Gattungen, läßt Kategorien verschwimmen, hebt die Grenzen zwischen Rock und Klassik, Melodie und Geräusch, Tier und Mensch auf. „Jeden Tag singen Buckelwale unten auf dem Meeresboden“, sagt er. „Was unterscheidet das vom Geige- oder Gitarreüben zu Hause?“ Im November wird Soldier 65 und ist seit Anfang der 1980er Jahre aus der Musikszene in New York Downtown nicht mehr wegzudenken. Er hat Streicher-Arrangements für David Byrne und John Cale geschrieben, Opern mit Kurt Vonnegut gemacht und Musik für die Sesamstraße komponiert. Soldier macht da keine Unterschiede. In einer Woche hatte er einmal einen Auftritt mit Pete Seeger und einen weiteren im Vorprogramm von Ornette Coleman. „Es war, als spräche ich mit demselben Menschen“, meinte er zu mir.

Doch Musik ist nur Soldiers Nachtjob — die Beschäftigung, der er nachgeht, wenn er nicht im Büro ist. Am Tag hat er einen anderen Namen und eine andere Identität: David Sulzer, Professor für Psychiatrie, Neurologie und Pharmakologie an der Columbia University. Sulzers Spezialgebiete sind Autismus und Parkinson-Krankheit. Mit seiner Frau, Francesca Bartolini, einer außerordentlichen Professorin für Zellbiologie an der Columbia University, forschte er über Alzheimer. Jahrelang hat Sulzer sich bemüht, diese beiden Schwerpunkte auseinanderzuhalten. In seiner Musik ging es selten um Wissenschaft, und seine Wissenschaft streifte die Musik nur am Rande; die Tätigkeitsbereiche speisten sich aus gegensätzlichen Seiten seiner Persönlichkeit. David Sulzer ist ein Reduktionist, der versucht, die wesentlichen Hirnmechanismen zu identifizieren. Dave Soldier ist ein Bilderstürmer, der bemüht ist, unseren Musikbegriff zu erweitern. Erst in jüngerer Zeit haben die beiden mit einer Zusammenarbeit begonnen, um zu sehen, was die Wissenschaft über Musik zu sagen hat und umgekehrt. 

„Fragt jemand, was mein eigentlicher Schwerpunkt ist, sage ich, die Basalganglien“, meinte Sulzer eines Nachmittags zu mir. „Dort laufen alle sensorischen Informationen vom Tasten, Hören und Sehen zusammen.“ 

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„Musik ist so tief in uns eingebettet, daß sie fast noch ursprünglicher als Sprache ist“, sagte Sulzer. Ein alter Mann mit Alzheimer, der eine Melodie aus seinen jungen Jahren hört, kann sich plötzlich an den Namen seiner Tochter erinnern. Eine junge Frau mit Parkinson, die erstarrt auf einer Treppe steht und ihre Beine nicht bewegen kann, wird unter Umständen den Fuß auf die nächste Stufe stellen, wenn sie sich eine rhythmische Melodie vorsummt. „Ich kannte einen Mann, der einen so schweren Schlaganfall erlitten hatte, daß er kaum sprechen konnte“, sage Sulzer. „Aber er vermochte immer noch zu singen.“ Musik ist eine Art Generalschlüssel, der zahllose Türen im Bewußtsein öffnet. 

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Tiere leben in einer Schallwelt, die von der unseren getrennt ist. Ihre Lautäußerungen und akustischen Wahrnehmungen sind auf andere Klänge und Frequenzen eingestimmt. (Der Frequenzbereich der menschlichen Stimme beginnt bei einem grollenden Baß von achtzig Hertz und endet bei einer ohrzerreißenden Höhe von 3 000 Hertz; ein Elefant kann vier Oktaven tiefer gehen, eine Fledermaus mehr als fünf Oktaven höher.) Trotzdem ist die Lautverarbeitung bei Tieren und Menschen sehr ähnlich. „Der Schaltkreis ist bei allem, was einen Kortex hat, gleich“, sagt Sulzer. Als Nima Mesgarani die Hirnaktivität von Frettchen aufzeichnete, stellte er fest, daß bestimmte Laute ihre Neuronen genauso aktivieren wie die unseren. „Frettchen können menschliche Sprache hören und in Phoneme zerlegen“, sagt Sulzer, „was einfach irre ist.“ Einige Arten besitzen eine außerordentliche mimetische Begabung. Koshik, ein asiatischer Elefant in einem südkoreanischen Zoo, konnte fünf Wörter Koreanisch äußern, indem er den Rüssel in sein Maul steckte. Der Belugawal Noc, der von inuitischen Jägern gefangen und von der US Navy in Pflege genommen wurde, lernte, die Stimmen nachzuahmen, die er in der Umgebung seines Beckens hörte. Eines Tages stieß er, seine Stimme durch den Nasengang pressend, das Wort „Out!“ so überzeugend hervor, daß ein Taucher das Wasser verließ. Er dachte, er hätte seinen Ausbilder gehört.  

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Andere Tierarten scheinen ähnlich musikalisch zu sein. Wie die Psychologin Diana Reiss herausfand, kann ein Delphin lernen, ein Unterwasser-Keyboard mit dem Schnabel zu spielen und die Töne nachzuahmen, die er hört. Anschließend kann er sich über diese Töne mit seinen Trainern verständigen. Der Bonobo Kazi, der von der Primatologin Sue Savage-Rumbaugh untersucht wurde, lernte auf einem Klavier so gut zu improvisieren, daß er mit Peter Gabriel jammen konnte. (Als Sulzer ein ähnliches Experiment mit den Bonobos im Zoo von San Diego versuchte, schmissen diese die Instrumente lieber durch die Gegend, statt auf ihnen zu spielen.) Drei Jahre zuvor brachte der Philosoph und Jazz-Klarinettist David Rothenberg ein Doppelalbum mit der Musik heraus, die er zusammen mit Nachtigallen in Berlin produziert hatte. Sein Aufnahmeprinzip war einfach: Er wartete, bis die Vögel sich in Bäumen versammelt hatten, setzte sich mit seinem Trio unter die Äste and verbrachte den Abend damit, Licks mit ihnen auszutauschen. Doch wenn Tiere zusammen mit Menschen musizieren, ist das Ergebnis manchmal schwer zu beurteilen. Ist es Kunst, Mimikry oder widerwilliges Einverständnis? Singen die Nachtigallen wirklich mit der Band oder strengen sie sich an, mit dem eigenen Gesang das Geräusch zu übertönen? 

„Ich bin mir der Gefahr des Anthropomorphismus ständig bewußt“, sagte Sulzer. Man ist leicht geneigt, gewöhnlichem tierischen Verhalten dezidierten Ausdruckwillen zu unterstellen. Die Elefanten in seinem Orchester hatten ein hochentwickeltes Rhythmusgefühl. Aber wenn sie lieber Schlaginstrumente als Blasinstrumente spielten, so lag es daran, daß sie befürchteten, es könnte sich eine Schlange im Mundstück versteckt haben. Spielten die Elefanten über längere Zeiträume zusammen, schienen sie einen Groove zu finden – offenbar schlugen sie im Rhythmus der Musik mit den Ohren und zuckten mit den Schwänzen. Zunächst nahm Sulzer an, sie bewegten sich zur Musik, tatsächlich aber war ihnen einfach zu heiß. „Schweißdrüsen haben Elefanten nur in ihren Zehen“, sagt er. „Sie schlagen mit den Ohren, um sich kühle Luft zuzufächeln. Und daß sie mit den Schwänzen zuckten, bedeutete, offen gesagt, daß sie sich ein wenig langweilten.“ (…)

Von allen summenden, kreischenden, brummenden und knurrenden Geschöpfen dieser Welt bemühen Vögel sich wohl am ehesten um eine musikalische Gestaltung ihrer Lautäußerungen. Sie singen, wenn die Sonne aufgeht, und sie singen, wenn sie untergeht. Sie singen, wenn sie sich paaren möchten und wenn sie ihre Territorien verteidigen. Sie singen, um ihre Jungen zu beruhigen und um Alarm zu schlagen. Einmal habe er, so erzählte Tchernichovski uns, die Gesänge von 45 Sprossern mit menschlichen Liedern aus sechs Kulturen verglichen. Im Durchschnitt konnten die Vögel einen Takt und ein gleichmäßiges Tempo genauso gut halten wie Menschen, aber sie verarbeiteten rhythmische Veränderung schneller und genauer. „Vögel sind wirklich die Weltmeister“, sagte er. Allerdings sei nicht klar, inwieweit man das verallgemeinern könne. Haben Vögel Freude am Singen, oder geht es ihnen nur um den Nutzen? Teilen sie unser musikalisches Schönheitsempfinden?

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.