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Cover Lettre International 43, Giulio Paolini
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Inhaltsverzeichnis

LI 43, Winter 1998

Heiner Müller Terrorsurfer

(...)

In dem Text Der Vater erwacht der Sohn von Geräuschen im Zimmer der Eltern. Als er durch die Türritze späht, sieht er wie ein Mann seinem Vater ins Gesicht schlägt. Er schlüpft ins Bett zurück und zieht die Decke hoch. Gleich darauf geht die Tür auf. Im Licht des anderen Zimmers steht der Vater auf der Schwelle. Hinter ihm Uniformierte. Sie schauen herein. Er schläft, sagt der Vater, die Tür wird wieder geschlossen.

Die Szene enthält die Disposition des Müllerschen Theaters. Den dunklen Zuschauerraum, den Lichtspalt unterm Vorhang, das Bühnenviereck, das metaphysischen Arrangement Henker und Opfer Arm in Arm, den abhängigen Zuschauer, der vom Opfer zum Täter blickt.

Der Einbruch der Staatsmacht ins Kinderzimmer verschränkt frühe Vaterzerstörung mit der Defloration des Sohnes. Die Begegnung mit der Macht erschreckt und wirft Lust ab. Die Tür soll wieder aufgehen, die Uniformierten sollen wieder schlagen, sie sollen wieder hereinblicken.

Im HJ-Geländespiel, erinnert sich der Autor in einem Gespräch, habe er sich, um der Balgerei am Schluß auszuweichen, gleich auf den feindlichen Anführer gestürzt. Der habe ihm den Faden vom Ärmel gerissen. Im Nu habe er zu den Toten gezählt, so schnell, daß die Zeit nicht einmal für einen tüchtigen Puff reichte.

Die Erinnerung steht den Texten an Mächtigkeit der Fügung nicht nach. Um sich den Faden abreißen zu lassen, hätte der erste beste genügt. Anders als Müller glaubt, wiederholt der Angriff auf den Anführer der Feindpartei die urbildliche Anordnung bei der Verhaftung des Vaters und überträgt sie aufs Geländespiel. Der beliebige Gegner genügt nicht, es muß der sein, der dem Führer des Rollkommandos gleicht, das den Vater verhaftete.

Der Angriff auf den HJ-Führer eröffnet die Schlägerei. Wie in der ursprünglichen Konstellation wird beim physischen Kontakt, im Augenblick der höchsten Annäherung der Schmerz vermieden. Identisch lenkt der intime Kontakt mit der Macht in einen zugleich offiziellen und schmerzlosen Zustand ein. Der SA-Mann sanktioniert durch Blick den von Terror verschonten Status des Kindes. Der HJ-Führer versetzt durch Berührung am Ärmel unter die Toten. Blick und Berührung sind von Deflorationswonnen umschauerte schmerzfreie Höhepunkte von Gewaltakten, um deren Widerholung es geht im Geländespiel, in der Gesellschaft, in Texten.

Die blutige Wurzel Müllerscher Sprache wird sichtbar, ihre Disloziierung in der Tötung und die Verkehrung der Dynamik. Die Mimikry unter den Toten setzt voraus, daß getötet wird. Die Rekonstruktion sucht die Tötung auf. Sie ist die Voraussetzung für die Berührung am Ärmel. Nicht der Deflorierer, der Deflorierte hält die Mühle in Gang, mit der Attacke im Geländespiel, mit Sprache, mit Stücken voll bohrender, drohender Fragen nach der Dauer von Gewalt.

"Die Decke bis zum Kinn hochgezogen lage ich im Bett, als die Tür zu meinem Zimmer aufging. In der Tür stand mein Vater, hinter ihm die Fremden, groß, in brauner Uniform. Sie waren zu dritt. Einer hielt mit der Hand die Tür auf. Mein Vater hatte das Licht im Rücken, ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Ich hörte ihn leise meinen Namen rufen. Ich antwortete nicht und lag ganz still. Dann sagte mein Vater: 'Er schläft.`"

Die Behauptung, er schläft, verschiebt auf der Schwelle vom Kinderzimmer zum Erwachsenenzimmer den Abschied vom Vater ins Unwiederbringliche. Eine natürlich Ablösung der väterlichen Herrschaft findet nicht statt. Als der Vater flankiert von SA-Männern vor den Augen des Sohns erscheint, den er unbehütet in einer auf Gewalt gestellten Welt zurücklassen muß, imprägniert er seine Seele. Er taucht sie in Drachenblut. Der Satz hält die SA vom Kind ab und befähigt zum Leben in der Diktatur. Sie entschuldigt für fehlende Solidarität mit den Opfern und verschleiert den Grund dafür, die Lust daran.

Die gewalttätige Beendigung der väterlichen Herrschaft zu einer Zeit, wo das Kind ihrer noch bedarf, greift ins seelische Wachstum ein. Eine lebenslängliche Puerilität ist die Folge. Für den Puerilen bleibt Herrschaft zeitlebens notwendig zur Konstituierung von Lebensraum im umfassenden Sinn. Sie ist Schirm und Dasein gebender Macht schlechthin. Ohne sie keine Inhalt, kein Auftrag.

Zu anderen Zeiten hätte sich ein herrischer Gott angeboten, zu dem Müller Zeit seines Lebens aufgeschaut hätte. Der regliösen Wendung stehen die biografischen Prägungen entgegen. Die überwältigte Seele bleibt dem Überwältiger verfallen. Müller sah nicht Gott, sondern das Rollkommando. Kann also der Blick nicht erhoben werden zu einem Vater über den Sternen, sondern nur zu einer Staatsmacht, so doch in der Erwartung in ihr eine ewige erkennen zu wollen, ein Instanz, die es zu preisen gilt, solange sie keine Schwäche zeigt wie der leibliche Vater, die es im Stich zu lassen gilt, wenn sie unterliegt wie er.

Der Stoff aus dem Tragödien sind, nie reicht die Munition alle zu töten, die es verdienen. Die Erfahrung, daß die Opfer alle Strategien überschreiten, ist von Schmerz inkrustiert "Die Bauern standen mit dem Rücken zum Steinbruch. Er sah die Bauern an, die Bauern sahen ihn an. Ihre Augen waren weit vor Furcht, dann schmal vor Haß, dann wieder weit, dann wieder schmal. Er sah auf ihre Hände: sie waren zerarbeitet, dann auf seine eigene zerarbeitete Hand, die schwitzte. Er sagte die oft gesagte Formel lauter als gewöhnlich: FEUER AUF DIE FEINDE DER REVOLUTION und schoß als erster. Die Salve wirbelte die drei Körper über den grasbewachsenen Hang in den Steinbruch."

Die Schönheit gründet in der Kadenzstruktur, die Körper sind im Steinbruch am Ziel. Die auf den Schmerz aquarellierte Drehbewegung, das Bild von den wirbelnden Körpern, enthüllt als Tendenz zum Tanz den Text als Komposition. Im klassizistischen Jubel über noch einmal wiederhergestellte Autorität läßt die Furcht vor Machtverfall für einen Moment nach. Die Physiognomien der Finsternisse verblassen, die Stimmung wird famos.

Dagegen greift Ernüchterung Platz, wenn es sich um ohnmächtige Gebilde handelt. Als er an der Hand der Mutter den Vater im Konzentrationslager besucht, dehnt sich der Weg endlos. Dem Kind erscheint der aller Autorität entkleidete Häftling als ein unausgefülltes Kleiderbündel. Was die Wache auf der Lagerstraße den Besuchern entgegenführt, ist in seiner Sehweise ein Unobjekt, in einem abzuweisenden Zusammenhang sein Vater. Die Erinnerungskontur wird von einer Liebesschwäche allem Ohnmächtigen gegenüber überzeichnet. Müllers Texte suchen die Gewalt. Sie folgen ihrer Spur wie die in der Fruche gründelnde Krähe dem Landmann. Es sind puerile Wunschbilder, auf andere Lagen übertragen, die tektonisch erschüttert werden, um in den Bebungen Vaterkastration und Deflorationsschock wieder zu erleben. Kulturfolger von Gewalt, die Herrschaft zum Anlaß nehmen für Gesang, liegen sie geschichtlichem Gang wesentlich auf.

Variiert wird das Thema Zenith und zeitliche Begrenzung des Sowjetischen Zeitalters in einer Epoche, die auf die gesammelten Hilfsmittel der Philosophie des 19. Jahrhunderts zurückgreift, um die Beherrschten zur Anerkennung des unwiderruflichen Zustands zu nötigen. Mauser arbeitet mit Revolutionsplatitüden. Verse wie,

"wissend, das Gras noch

Müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt...

Wissend, das tägliche Brot der Revolution

Ist der Tod ihrer Feinde....

Engführungen von Arbeiten und Töten,

Und dieses Töten war ein anderes Töten

Und es war eine Arbeit wie keine andere.

Deine Arbeit fängt heute an. Der sie getan hat vor dir

Muß getötet werden vor Morgen, selbst ein Feind.

sind geronnene Ideen, Devisen versunkener Aktion, rekursive Bruchstück revolutionärer Ritale, die zelebriert wurden, das Töten leichter zu machen, durch das man bei der Stange bleibt, die nun zelebriert werden, um die Stange zu behaupten. Prägnanz aus Substanzverlust gehämmert, schlägt sich ein. Die Kopplung von Prägnanz und Wiederholung verdunkelt den Sinn. Alles führt in das zurück, was nicht war. Ein verdunkelter Sinn wird unterstrichen und, in der Bedeutung überhöht, immer undeutlicher. Alles hebt auf Erinnerung ab, Einnerung ist die Bedeutung.

Es gibt Windungen und Gerade, keinen Ausgang. Man ist endlos unterwegs in einem blutklammen Labyrinth, in dem die vermoderten Fanfaren, wieder und wieder angeleuchtet, niemals blasen. Aus Tod wird Tod. Tod macht Sprache unzerstörbar, nicht lebendig. Eine Spontinische Durchführungstechnik, die Wandlung betreibt, damit sich nichts ändert, verbohrt sich ins Dekor. Das monströse Rhythmogramm In der Stadt Witebsk.flirrend durch dreifach veränderte Position im Vers, mehr als zwanzigmal wiederholt im Ganzen, explodiert nicht. Der Opfergang verebbt zu kolossalischem Maß.

Der Puerile, der den Erwachsenenstatus nicht erreicht, der ihn in die Lage versetzt, den Vater vom Thron zu stoßen, bleibt aufs Rollkommando angewiesen. Die Bedingungen von Herrschaftseroberung und Verteidigung sind nicht in seine Hände gegeben. Er kann keine Beruhigung über die Dauer von Herrschaft erlangen, von der er abhängt. Er wird seit dem Sturz aus dem väterlichen Paradis in den Staat von der Furcht verfolgt, der Staat falliere. Er kann durch hybride Unterwerfung, durch Herausforderung der Herrschenden zu Gewaltakten sich zu versichern suchen, Beruhigung erlangt er nicht. Das wird zur Quelle für Sprache, für eine auf Herrschaft und ihre Virolenz gerichteten Kraft, für eine ihrer Natur nach maßlose und von keiner Herrschaft zu erfüllenden Forderung nach ewigem Zenith. Sprache kollidiert mit der Endlichkeit menschlicher Herrschaft und begrenzt ihre Tragweite. Furcht vor dem Verfall von Macht reißt den Blick vom Augenblick zur Epoche und von der Epoche fort zur Utopie. Walter von Reichenau sagt "Kadetten verstehen nicht von Abenteuern und nichts von Nichtabenteuern." Sie sind unfähig dem Augenblick standzuhalten aus Angst vor den Veränderungen des nächsten. Der Rekurs auf die Zukunft ist so fundamental wie regressiv. Es geht um die Verwandlung von Utopie in Herrschaft. Sie zertümmern den Augenblick um seiner Vergänglichkeit willen und zerren den Vorhang von künftigen Herrschaftsstrukturen. Wer den Glücklosen Engel aus der Moräne gräbt, erblickt Müllers Antlitz, ein Kadettengesicht, verzerrt vom Warten auf Herrschaft "Hinter ihm schwemmt Vergangenheit an, schüttet Geröll auf Flügel und Schultern, mit Lärm wie von begrabenen Trommeln, während vor ihm sich die Zukunft staut, seine Augen eindrückt, die Augäpfel sprengt wie einen Stern, das Wort umdreht zum tönenden Knebel, ihn würgt mit seinem Atem. Eine Zeit lang sie man noch sein Flügelschlagen, hört in das Rauschen der Steinschläge vor über hinter ihm niedergehen, lauter je heftiger die vergebliche Bewegung vereinzelt, wenn sie langsamer wird. Dann schließt sich über ihm der Augenblick: auf dem schnell verschütteten Stehplatz kommt der glücklose Engel zur Ruhe, wartend auf Geschichte in der Versteinerung von Flug Blick Atem. Bis das erneute Rauschen mächtiger Flügelschläge sich in Wellen durch den Stein fortpflanzt und seinen Flug anzeigt."

Müllers Leben, gespiegelt in einer kontradiktorischen Produktion, ist schwindelnder Sturz in Zeitlichkeit, in eine Kette von Zusammenbrüchen, an deren Anfang der Untergang des Vaters steht. Seiner Entmachtung folgt das Scheitern der Heeresgruppe Mitte vor Moskau und der Zug der Roten Armee nach Berlin, dem Untergang des faschistischen Staates der Untergang der DDR. Müllers Sprache hastet auf der Überholspur mit. Es geht um Umwandlung des Kommenden in Autorität. Nichts begreift, wer wünscht, der glücklose Engel verkünde den Niedergang des sozialistischen Lagers, wer glaubt, der Mensch fliehe die Exzesse, die er bis zum Wahnsinn liebt.

Enthusiastische Attachierung schließt Klage ein. Die einzig mögliche Form von Trauer in der Epoche, die Angst des Kapo, der Zug der Opfer könne Unterbrechung erleiden, setzt Klage frei. Fern von den larmoyanten Kraßheiten exilierter Kleinschriftsteller reckt Müller Sprache das Haupt in den Himmel, ballt sie zum Schrei nach dem verbleichenden Gespenst der führenden Rolle der Partei und erbebt über den hohlen Echos.

Müller besucht die Macht mit Stücken. Sind die Texte genau, blicken Uniformierte ins dunkle Zimmer, in dem er nackt unter der Decke liegt. Immer ist es so, nur der Grad der Verinnerlichung schwankt. Nackt unter der Decke sind die Texte, sehnsüchtige Vaterbeschwörungssprache, um leiden zu lassen, was man ihn hat leiden lassen, um eine Gegenseitigkeit herzustellen, die sich nicht herstellen läßt, weil zu ihr die staatliche Aktion sich nicht, oder nicht mehr, oder nur noch bruchstückhaft bequemt, hallenden Rufe in der Ruine Deutschland, um zu lieben was den Vater kastrierte, um den Blick der Staatsmacht auf dem Körper zu spüren, um zu fühlen wie die Lust die Schuld ersäuft.

Rosa und Ophelia sind dünn wie Stroh, die fahlen Konturen ihrer lädierten Physiognomien kaum auszumachen im blendenden Gegenlicht der Wasserstoffbombe, im Glanz von Schlieffens Gestirn Mitte des 20. Jahrhunderts. Hamletmaschine gehört zur Gattung der Ritornelle. Im Ritornell zerfällt das Haupthema endgültig. Die Ideen nehmen die Beschaffenheit von Zunder an. Die insistierende Beschäftigung mit ihnen liefert den Brennstoff für die Bevorratung des Finales. Eines Tages werden sie ohne sichtbaren Anlaß brennen und die Luft noch trockner machen.

Müllers letztes Projekt, ein Haus im Grenzstreifen zum Schreiben, kann nicht mehr verwirklicht werden. Die Schüsse verhallen vor dem Hauptwerk. Der Salve hinterherlaufen, jede Bescheidung darunter verkennt Antriebe und Tragik Müllerscher Sprache, deren Rang, ehe sie unter Privilegien verkam, als sie das, was sie am innigsten liebte, nicht mehr zur Gewaltentäußerung zu provozieren vermochte, an Brecht, Jünger, Spontini, an Wagner und Brecht sich messen konnte. Die Kraft zu Säuberungen erlischt. Am Ende einer Epoche verlassen die Paladine die Instinkte. Die Stücke, die Müller nicht mehr schrieb, sind nicht wichtig.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.