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Lettre 144, Kunst Mathias Deutsch
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LI 144, Frühjahr 2024

Die Säulen von San Lorenzo

Verlorene Schritte, verblassende Spuren – Mailänder Träumereien

(…)

Es gibt Erinnerungsmaschinen. Sie gleichen gewöhnlich dem, was hier photographiert wurde. Läden entlang der Straße einer antiken Stadt, Alkoven im Bauch der Villen oder der Raum zwischen den Säulen im Kreuzgang eines Klosters. „Mnemotechnik“ nannte man die Kunst, seine Erinnerungen in einem Bild festzuhalten, das man dann an Orten aufbewahrte, wo man es wiederfinden würde. Cicero und Quintilian haben diese Gedächtnispaläste geschildert, deren Erfindung sie dem griechischen Dichter Simonides von Keos zuschrieben.

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Die Erinnerung an manche Bücher verbindet sich untrennbar mit dem Ort, an dem man sie gelesen hat. Er kann heute nicht an Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana denken, ohne das kleine Zimmer wieder vor sich zu sehen, das er damals bewohnte, unweit der Bibliothek Braidense, als er vor nunmehr über 15 Jahren nach Mailand zurückkehrte. Und während der komatöse Held des Romans von Umberto Eco sein verlorenes Gedächtnis zu rekonstruieren suchte, indem er durch die Räume im Haus seiner Kindheit ging, träumte er vom Haus seiner Großeltern in der Normandie, diesem verlorenen Paradies. Er rekonstruierte es Raum für Raum, um zu überprüfen, ob er dort nicht irgendein Beweisstück hinterlassen hatte, vielleicht aus Nachlässigkeit oder aufgrund von Kindheitsängsten. 
     Man schlüpft also in das Labyrinth dieser Schattenzonen. Die Zimmer öffnen sich, eines nach dem andern, vorausgesetzt, man ist bereit, sie in der richtigen Reihenfolge zu durchqueren, und dann ist es, als gingen Lampen an im Rhythmus seiner Schritte, seiner leisen Schritte. Beim Gehen durchschneidet man die Nacht. Sagt man deshalb manchmal vom Nebel, daß er zum Schneiden dick ist? In manchen Räumen ist nichts, bis auf das Entsetzen, das Orte auslösen, an denen man nicht war; in anderen strömt alles herbei. Aber man betritt sie selten und achtet dabei darauf, nicht gegen die Möbel zu stoßen, denn die Erinnerungen tauchen zwar weniger abgestanden auf, als man dachte, doch hat die Kindheit sie beträchtlich vergrößert – alles ist enger, als man es sich vorgestellt hat. 
     Er war nach Mailand zurückgekehrt, um die Spuren eines sehr alten Gedächtnisses zu verfolgen, desjenigen von Ambrosius. Er wußte, was das für ihn bedeutete an Rückwendungen und Gewissensbissen – wieder anknüpfen, wieder lesen und neu anfangen. Diesmal war es gewiß anders. Er machte eher Jagd auf die Dauer als auf die Ausdehnung. Er würde nicht mehr mit großen Schritten die Stadt, die ganze Stadt durchlaufen, sondern erforschen, wie man sich quer durch die Zeiten an einen Mann erinnerte, den Schutzpatron der Stadt. 
     Tausend Jahre Mailand boten sich nun dar, um die Gravitation einer Stadt um einen Namen, eines Namens um eine Stadt zu begreifen, Ambrosius von Mailand. Der blendende Lichtschein glanzvoller Erinnerungen. Alberto Moravia drückt es wieder sehr gut aus: „Mailand ist voll vom Glanz und vom Widerhall seines Heiligen“, aber „wie sich die Helle einer Lampe in einer blendenden Beleuchtung auflöst, genauso löst sich inmitten eines solchen Ruhms das präzise Bild des Heiligen auf“. Um es zu rekonstruieren, muß man seine Spuren untersuchen. 
     Denn Bischof Ambrosius war auch der Erbauer des Gedächtnisses der Stadt, die er mit einem Netz von Basiliken ausrüstete. Dieses Netz bildete das Gerüst eines Stadtkörpers, der architektonisch wie eine Gedächtnismaschine angelegt war. Es geht um Wiederverwendungen und Nutzungen des Bodens. Im Süden der Stadt, außerhalb der antiken Mauern, ist die ehrwürdige Basilika San Lorenzo Maggiore der Ort, wo man sich daran erinnert, daß Mailand die Hauptstadt des weströmischen Reichs gewesen ist. Unweit von ihr das Amphitheater, aus dem man sicherlich die Steine und die Überreste holte, die im 4. Jahrhundert beim Bau der Kirche verwendet wurden, einem Zentralbau in Gestalt eines von Exedren durchbrochenen Tetrakonchos. Sie setzt sich zur Straße hin fort mit einem vierteiligem Portikus, gesäumt von Propyläen, die parallel zur antiken Straße stehen. 
     Sie sind es, die man heute noch sieht, 16 korinthische Säulen mit einem steinernen Architrav, der selbst an beiden Enden auf Backsteinpilastern aufliegt. Man weiß nicht, aus welchem antiken Tempel diese Säulen stammen, die den Dekor dieses Gedächtnistheaters, welches die derzeitige Stadt ist, so schön prägen. Die Droschke, die Straßenbahn und die modernen Gebäude, die den Blick verstellen, hinter ihnen, zwischen der Kirche und der Straße – nichts fehlt in diesem Panorama, das die Zeitlichkeiten elektrisiert und die rivalisierenden Perioden unter Spannung setzt.
     Wo sind wir, drinnen oder draußen, gestern oder heute, in meinen Erinnerungen oder in denen der Figuren, die auf uns zukommen? Man sagt ihm, er sei wach, aber wie kann man sich dessen gewiß sein? Die überdachten Passagen in Paris erzeugen ähnliche Kurzschlüsse. Sie sind, sagt Walter Benjamin, „Häuser oder Gänge, welche keine Außenseite haben – wie der Traum“. Mailand ist die andere Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Ihr entkommt man nicht. 

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Die kommende Ausgabe Lettre 145 erscheint Mitte Juni 2024