LI 105, Sommer 2014
Buch des Brokats
Raffinement und Eleganz in der frühen arabischen KulturElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Französischen von Uta Goridis
Textauszug: 12.659 von 53.828 Zeichen
Textauszug
Was muß geschehen, fragt man sich angesichts der aktuellen Situation arabischer Gesellschaften, die zum größten Teil vom Islam und von totalitären Regimes beherrscht werden, die, um ihre eigene Macht aufrechtzuerhalten, auf die Kraft religiöser Empfindungen, auf eine göttliche Autorität setzen oder sich innerhalb des Islams zerfleischen, um der einen oder anderen religiösen Strömung zum Sieg zu verhelfen? Und was muß geschehen, fragt man sich angesichts der Bilanz aus dem als „Arabischer Frühling“ bezeichneten Phänomen, einer Bilanz, die unvollständig und vorschnell ist, da die Maschinerie immer noch Tausende von Leichen hinter sich läßt, in Ägypten oder Syrien oder sonstwo? Wodurch kann man diese Misere beenden? Wie kann man diesen durch Religion und Geschichte verbundenen Völkern einen neuen Elan einhauchen, eine neue Weise aufzeigen, die Beziehungen zu sich und anderen zu verändern? Wie kann man sie dazu bringen, nachzudenken, sich einander anzunähern, sich mit anderen Augen zu betrachten und die anderen so zu akzeptieren, wie sie sind? War nicht die Freiheit das eigentliche Anliegen der Revolutionäre oder besser Revoltierenden dieses berühmten Frühlings? Wie kann man noch die Wertschätzung der Frauen retten, sowie jener, die ihre Selbstbestimmung und ihren Körper lieben?
Wir möchten den Begriff der „Eleganz“ mit diesen Fragen verbinden, um den Platz der einzelnen auf dem Schachbrett auseinanderbrechender Gesellschaften neu definieren zu können, Gesellschaften, denen die Grundlagen fehlen, um miteinander zu sprechen, sich zu verstehen, sich zuzuhören. Natürlich hat jede Kultur, jede Sprache ihre eigene Auffassung von diesem Begriff, und das Wort „Eleganz“ ist nicht immer geeignet, genau wiederzugeben, was der Begriff in einer anderen Sprache ausdrückt noch ihn in seiner ganzen Reichweite zu übersetzen.
Im Arabischen bezeichnet das Wort zharf „Eleganz“ oder „Raffinement“, wovon angenommen wird, daß es allen Bestandteilen einer Gesellschaft inhärent ist; es manifestiert sich im Verhalten, Handeln, in der Lebensart, im Alltag, in der Existenz, in den einfachen oder komplizierten Beziehungen zu Familienmitgliedern, Freunden oder Liebhabern, im Akt der Anbetung oder seiner Abwesenheit, in der politischen Praxis oder Einstellung, in Bräuchen, Gewohnheiten und mentalen Dispositionen. Der Begriff wird gewöhnlich mit „Raffinement“ wiedergegeben, da „Eleganz“ sich im heutigen Sprachgebrauch zunehmend auf den äußeren Aspekt bezieht und alle inneren Qualitäten vernachlässigt, den Schein dem Sein vorzieht. In der klassischen Epoche wurden dem Begriff zharf viele Abhandlungen gewidmet, aber nur eine ist uns erhalten geblieben.
Man muß weit zurückgehen, um Wesen und Bedeutung von zharf/Eleganz in der frühen arabo-islamischen Kultur zu verstehen; man muß eine Reise in eine Stadt auf ihrem kulturellen Höhepunkt unternehmen, die heutzutage Attentate im Rhythmus von Schießereien, Explosionen und zerfetzten Körpern erlebt: Bagdad. Und wir brauchen einen Autor, vorzugsweise einen Bewohner Bagdads, der uns an die Hand nimmt und mit uns durch die engen Gassen spaziert, der uns durch das Labyrinth dieses Begriffs führt und das Raffinement an lebenden Bildern vor Augen führt: Das wäre al-Washshâ’. Wir befinden uns in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts der Hidschra [dem 10. Jahrhundert n. Chr.]. Das abbasidische Kalifat tritt in die Phase seines Niedergangs ein, die persönliche Autorität der Kalifen schwindet, die Provinzen befreien sich, und in extremen Fällen kommt es zu Aufständen wie dem der Zanji, abessinischen Sklaven, die in den Salzsümpfen des südlichen Iraks arbeiten, dem der Ismailiten aus Bahrain oder dem der Qarmaten, die es wagten, bei einem ihrer Überfälle den schwarzen Stein der Kaaba aus dem Heiligtum von Mekka zu entführen.
Von diesen unruhigen Zeitläuften völlig unberührt verfaßt ein Bagdader Gelehrter sein Buch des Brokats, eine Abhandlung über Kunst und Schönheit, eine einzigartige Quelle hinsichtlich der Kenntnis der eleganten Gesellschaft des großen Bagdad. Es schildert im Detail die Verfeinerung der Sitten, das Savoir-vivre, und beruft sich dabei auf Zeugnisse aus Kreisen kultivierter Stadtbewohner oder auf eigene Beobachtungen im Bereich der Gastronomie, der Kleidung, der Parfums und der Kalligraphie.
Das Buch ist von der Schönheit eines Gedichts, das mit den kostbarsten Tinten auf Brokat- und Seidengewebe kalligraphiert wurde und nach Weihrauch und Parfum duftet. Schmuck, Musikinstrumente, Porzellan, Mobiliar, Schreibfedern, mit Liebesbotschaften beschriftete Äpfel … alles ist möglicher Untergrund für den Künstler, Wangen, Stirn, Handflächen, Fußsohlen werden zur Leinwand einer Kalligraphie, die die Schönheit der damit Beglückten rühmt und die Leidenschaft besingt, die sie erweckt.
(…)
Die Liebe
Die mit der höfischen Liebe verwandte keusche Liebe nimmt einen zentralen Platz in al-Washshâ’s Werk ein. Im Mittelpunkt seines Diskurses über die leidenschaftliche Liebe (‘ishq) steht der berühmte Liebeshadith: „Wer leidenschaftlich liebt, bleibt keusch, geht daran zugrunde und stirbt als Märtyrer.“ ‘Ishq ist einer der wichtigsten Namen der „Liebe“, welche ungefähr sechzig verschiedene Namen hat. Anfänglich bezog sie sich auf ein läufiges Kamel oder auch auf ein männliches Kamel, das sich so sehr an seine Stute gewöhnt hat, daß es keine andere mehr begehrt. Später verstand man darunter eine Kletterpflanze, die, um höher zu klettern und zu wachsen, sich um eine andere windet und ähnlich wie ein sich verzehrender Liebender zuerst ergrünt und dann verwelkt.
Al-Washshâ’ unternimmt eine geistreiche Analyse der Liebe, ihrer Tugenden und Auswirkungen. Er propagiert eine keusche Leidenschaft, die sich im Rahmen des beduinischen Treuebündnisses entwickelt, und verleiht ihr den beinahe religiösen Status eines Werkes obligatorischer Anbetung. Die Auswirkungen der Liebe werden beschrieben wie Erfahrungstatsachen, doch auch die Viersäftelehre wird herangezogen, die in ihr die Anzeichen für einen abrupten Temperamentswechsel im hippokratischen Sinne sieht. Das Temperament eines Liebenden wechselt von einem phlegmatischen, kalten und feuchten zu einem hitzigen, galligen und trockenen. Dieser Wechsel erklärt für die Ärzte das fatale Ende der als Krankheit betrachteten Leidenschaft. Die wundervollen Liebesgeschichten, die al-Washshâ’ und später der Liebeshadith erzählen, besiegeln und legitimieren die Fatalität dieser Leidenschaft. Wenn al-Washshâ’ über die Liebe schreibt: „Sie stößt für den Geist die Tür zur Vernunft und zur persönlichen Entfaltung auf. Sie besitzt große Macht über das Herz, das der Seele Flügel verleiht. Aus einem Zaghaften macht sie einen Helden und aus einem Geizigen einen großzügigen Wohltäter. Sie löst die Zunge der Stotterer und stärkt die Entschlußkraft der Schwachen“, erinnert das an Plutarchs Dialog über die Liebe: „Selbst aus dem gröbsten Klotz macht sie einen Dichter und aus einem Geistlosen einen Klugen; unter ihrem Einfluß wird auch der Feigste mutig, so wie die Flamme das Holz härtet.“
Die Leidenschaft wirkt wie der Katalysator einer chemischen oder alchemistischen Reaktion, da sie eine wundersame Veränderung des Wesens bewirkt, vor allem, was die Intelligenz betrifft: Die Geister (tufattaqu) öffnen sich durch die Tür der Leidenschaft. Fataqa bezeichnet den Vorgang des Aufplatzens und beschreibt das Hereinbrechen des Lichts durch den Spalt einer Wolke oder das der Morgenröte, die das Dunkel der Nacht durchbricht. Auf diese Öffnung, diese Geburt der Vernunft, folgt deren Entwicklung (yanfasihu bihi al-janân), die ebenfalls der Liebe zu verdanken ist. Die Besitzergreifung (sawra) des Zentrums des menschlichen Wesens, des Herzens, erlaubt der Leidenschaft, die Seele (lubb) zu beflügeln, welche hier als das vitale Prinzip gilt, das im Inneren des Herzens residiert. Nachdem al-Washshâ’ eine Art Physiologie der Leidenschaft entworfen hat, kann er deren wichtigste Auswirkungen beschreiben. Da die leidenschaftliche Liebe sich des Zentrums des Wesens bemächtigt, sind ihrer verwandelnden Kraft praktisch keine Grenzen gesetzt: Der Liebende beweist plötzlich Mut, Großherzigkeit, Beredsamkeit, Entschlußkraft – beduinische Tugenden, die er vorher nie besessen hat.
Aber eigentlich sind diese Veränderungen nur die Folgen eines Temperamentswandels im hippokratischen Sinne. Der Gewichtsverlust, auf den al-Washshâ’ eingeht, ist nur das äußere Zeichen dieser Transformation, dieses Wechsels von einem phlegmatischen, kalten und feuchten Temperament zu einem galligen, warmen und trockenen; eine keusche Leidenschaft, welche die Idee der Lust nicht ausschließt; eine Keuschheit, die mit Leidenschaft verbunden ist. Es gilt, die Grenzen einer leidenschaftlichen, mit dem göttlichen Gesetz konfrontierten Liebe zu erforschen, sich bewußt der Gefahr der Überschreitung auszusetzen, „so weit zu gehen, wie Gott es erlaubt, und sich so weit wie möglich dem Verbotenen zu nähern“.
Ausdrücke wie „Augen voller Ausschweifung“ (zâniyya al-aynayni) oder „unzüchtige Blicke“ (fâsiq al-nazar) spiegeln die Ambiguität eines Vorgehens, bei dem man sich der Lust und der Leidenschaft hingibt, gleichzeitig aber so tut, als würde man sich zügeln und keusch bleiben. Al-Washshâ’ vollbringt einen Balanceakt zwischen der Einhaltung der Gebote und den Regeln der Liebe, läßt aber in der Anwendung der Gesetze einen gewissen Spielraum zu, da bestimmte Verhaltensweisen nicht ausdrücklich verboten sind.
Auch die Alten suchten in der Religion selbst nach Lücken, die eine größere Freiheit erlaubten, ganz im Gegensatz zu unseren heutigen „Maulhelden“, unseren Strenggläubigen, die sich immer neue Möglichkeiten ausdenken, sie zu ersticken. Bei al-Washshâ’ wird die leidenschaftliche Liebe selbst zur Religion, in der Liebende Propheten und Märtyrer sind. Eine solche Auslegung, ein solches Zurechtbiegen der Liebe, ebnete der Eleganz und dem Raffinement, so wie sie früher aufgefaßt wurden, den Weg.
(…)
Die Eleganz konnte ihren Siegeszug durch die Jahrhunderte und die Metropolen antreten, von der Stadt Medina, der ersten Hauptstadt des Islams, über Bagdad, Córdoba, Tlemcen, Bejaia und Fes bis nach Basra und Kufa, unterstützt von Künstlern, Sängern und Sängerinnen, Dichtern, Musikern und Musikerinnen, Schreibern (kuttâb), Sängersklavinnen. Sie konnte selbst vollkommen abgeschottete Gesellschaften erobern, religiöse Gebote umgehen und einen verfeinerten Lebensstil kreieren, dessen Spuren noch im Säulenwald der Alhambra sichtbar sind, dessen Wohlgerüche das Wadi al-Kabir und den Guadalquivir bis nach Córdoba hochsteigen, um das Wadi al-Aqiq zu beschwören, wo sich die Elite von Medina versammelte, unter anderem Ibn Surayg, der berühmte Sänger, Omar bin Abî Rabia, der Verfasser von Liebesgedichten, Sukayna bint al-Husyan, die Enkelin von Alî und Stilikone, welche künstlerische oder literarische Zirkel organisierte und sich so in einer religiösen Gesellschaft die Anerkennung und den Schutz verschaffte, ohne die sich das Ideal des Raffinements nicht hätte verwirklichen lassen. Medina war der „Ort, wo alles Gesang, Cantino und Chanterelle war“, so der Andalusier Ibn Abd Rabbih.
Der berühmte Musiker Ziryâb ließ sich in dem verlorengegangenen Andalusien nieder, um dort seinen extrem verfeinerten Lebensstil zu kultivieren: „Zuerst brachte er den Bewohnern Córdobas die raffiniertesten Küchenrezepte Bagdads bei und erklärte ihnen, wie eine elegante Mahlzeit auszusehen hatte: Die Gerichte durften nicht wahllos serviert werden; zuerst kamen die Suppen, dann die Fleischspeisen und würziges Geflügel, die von Süßigkeiten, Gebäck mit Nüssen und Mandeln oder Obstpasteten mit Vanille-, Pistazien- und Haselnußfüllungen abgerundet wurden. Die groben Leinenservietten ersetzte er durch feine Lederdecken, und er bewies, daß kostbare Gläser sich besser mit dem Tafelschmuck vertragen als goldene oder silberne Becher.
Er eröffnete in Córdoba ein richtiges Schönheitsinstitut, wo man die Kunst des Schminkens, Epilierens, Zähneputzens und Frisierens erlernen konnte. Es genügte nicht, die in der Mitte gescheitelten Haare einfach in die Stirn fallen zu lassen und die Schläfen damit zu bedecken; sie mußten vielmehr so geschnitten und abgerundet werden, daß sie Augenbrauen, Nacken und Ohren frei ließen. Er entwarf einen Modekalender und bestimmte, daß von Anfang Juni bis Ende September Weiß getragen werden sollte, daß im Frühjahr leichte Seidenroben und bunte Tuniken passend seien, im Winter hingegen wattierte Umhänge oder Fellmäntel.“ Hinzu kam sein Beitrag zur Musik, denn Ziryâb war ein genialer Musiker. Dieser gute Ton, diese Eleganz und Verfeinerung der Sitten gedieh nach der Reconquista auch auf maghrebinischem Boden.
(...)