LI 102, Herbst 2013
Nackt mit Dreispitz
Narzißmus, Erotik, Religion - Kierkegaards Auslieferung an das LebenElementardaten
Genre: Essay, Porträt
Übersetzung: Aus dem Dänischen von Jörg Scherzer
Textauszug: 2.482 von 12.568 Zeichen
Textauszug
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Von Søren Kierkegaard habe ich gelernt, daß ich mich lediglich an meiner eigenen, ganz persönlichen Gottesbeziehung zu orientieren habe. Damit ist Søren Kierkegaard modern – vielleicht geradezu die Speerspitze jener Selbstvergötterung, die Teil der Modernität ist. Und sogar ein Vorgänger des liberalistischen Individualismus, der so stark zur Selbstzentrierung des Individuums anspornt. Vielleicht spiegelt sich in Kierkegaard die übertriebene Investition der Gegenwart in Schmerzen und Qualen des Ichs auf Kosten des gemeinschaftlichen Wohlergehens wider. Um die Demokratie – die „tyrannischste Regierungsform“ mit der Volksverdummung als Grundpfeiler – scheren sich die meisten floskelhaft. Auf diese Weise wird Kierkegaard auch zum Modell für die Krankheit des Subjektivismus, den Narzißmus – und damit, paradox genug, ein vollkommenes Allgemeines.
Ist es nicht gerade die Krankheit des Narzißmus, die zur Plage des modernen Menschen wurde? Des Menschen, der „das Ganze“ will – mit halben Verpflichtungen. Aus Angst, Eigenschaften wie ein „Entweder-oder“ zu offenbaren. Ist es nicht eben der Narzißt, der im Verlangen nach allem seinen inneren Menschen einlagerte und seine gesamten Lebensbedingungen außerhalb seiner selbst verlegte, ohne darum „den anderen“ zu wählen? Eros entreißt das Subjekt seiner selbst, in Richtung auf „den anderen“ – während die Depression es in der Dämonie der Selbsteingenommenheit auf sich selbst zurückwirft.
Paradoxerweise hat sich wohl kein Narzißt ernsthaft für sich selbst als Bildungsweg entschieden. Bildung ist, folgt man Kierkegaard, schließlich weder aufgeklärt noch belesen. Bildung ist, „sich selbst einzuholen“. Sich auf seine vorkulturellen Voraussetzungen zu besinnen, auf seine Leidenschaft. Der moderne Mensch jedoch ist leidenschaftslos, hat das Geschenk in seinem Inneren verschmäht, das ihn größer macht als die Engel. Der innere Mensch ist aus unserer gemeinsamen Geschichte verschwunden.
Die Lesen Kierkegaards ist eine gute Kur, die gegen die Pandemie der Depression, die Schwermut, zu empfehlen ist, vom Dichterphilosophen als „Hysterie des Geistes“ durchschaut. Schließlich setzt die Depression ja genau dort ein, wo die unmittelbare Begierde nach allem aufgezehrt ist und der Geist eine höhere Form fordert. Eine Kur jedoch, die nicht in der Apotheke erhältlich ist, weder im freien Verkauf noch auf Rezept. Und die Verzweiflung zu wählen – die womöglich der Weg +voran+ wäre – liegt dem modernen Menschen fern.
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