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Cover Lettre International 77, Francesco Clemente
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Inhaltsverzeichnis

LI 77, Sommer 2007

Bildung, please!

Möglichkeiten einer erfolgreichen Einweisung des Weltbürgers in die Zivilgesellschaft

Unter Betrachtern und Opfern besteht ein weitgehender Konsens darüber, daß die Reformen der Bildungsanstalten in den letzten zwölf Jahren verheerend waren. Fächer sind in einem Ausmaß zerstört worden wie nie zuvor in der deutschen Geschichte. Germanistikstudenten kennen die deutsche Grammatik nicht, der von den Funktionären ausgedachte berufsqualifizierende Abschluß eines Bachelor ist weder in der Wissenschaft noch auf dem Markt etwas wert und so weiter. Die Demütigung der Akademiker durch die Bürokratie mit Bitten und Selbstanpreisungen in Anträgen ist unerträglich geworden; wer sich an dieser Selbstaufgabe nicht beteiligt, ist verloren.

Das Lamento soll hier nicht fortgesetzt werden. Es soll auch nicht auf gepriesene Inhalte vergangener Zeiten zurückgegriffen werden, als verkörperten sie als solche schon besondere Bildungswerte. George Steiner sucht den Kern der Bildung in einem Quaternio von Mathematik, Musik, Architektur und Metaphysik beziehungsweise Molekularbiologie und Genetik; aber es ist eine Utopie, die er gegen die miserable Wirklichkeit stellt; es gebe Krisenzeiten, in denen nur das Utopische realistisch sei wie George Steiner schreibt. Wir wollen weder versuchen, in eine Platonsche oder Steinersche Metapaideia zu entrücken, noch können wir kostengünstige Einzelvorschläge zum Ausbremsen der laufenden zynischen Zerstörung durch die Verwaltung vorlegen. Ohne systematische Ambition sollen hier einige Gesichtspunkte genannt werden, auf die jeder stößt, der über Bildungsfragen nachdenkt. Die Gesichtspunkte werden getrennt aufgeführt, obwohl sie sich gegenseitig voraussetzen und ihnen keine lineare Gedankenfolge angemessen ist, sondern ein synoptisches Tableau. Vielleicht steht dieses Tableau am Ende vor Augen.

Was ist Bildung? Bei der Beantwortung dieser Frage müssen wir durch zwei entgegengesetzte Extreme hindurchsteuern. Eine Auffassung bestimmt Bildung aus der Selbstrealisierung des Menschen, aus dem Binnenraum seiner Natur; die andere antwortet von außen: Bildung besteht im Besitz von Kompetenzen, die morgen verlangt werden. Die erste Antwort läuft Gefahr, nach dem zeitlosen Wesen des Menschen zu suchen und in eine abseitige Innerlichkeit zu geraten, die zweite folgt der Außensteuerung durch den Markt und macht die Bildung zu einer Installation von Fähigkeiten, die gerade von der Industrie- und Informationsgesellschaft verlangt werden: Krippenplätze mit Computer.

Zwischen beidem liegt ungefähr folgende Antwort: Bildung ist Einweisung zur/m selbstbewußten Weltbürger/in in der jeweiligen Zivilgesellschaft. Dazu bedarf es bestimmter Grundkenntnisse und Fähigkeiten, über die alle verfügen müssen, und zugleich der Eigenentwicklung, die das jeweilige Individuum charakterisiert. Zum letzten gehört, daß man Genie oder Versager sein kann und daß beides einbezogen wird in das Mitspielen in der Gesellschaft.

Kein Mensch hat seine Erzeuger um seine Geburt gebeten; wenn er in das Leben gezogen wird und diesen Akt mit großem Geschrei kommentiert, liegt im Protest die Aufforderung an die Schuldigen, ihn physisch und geistig gut zu versorgen und nach bestem Vermögen zu einem gesunden, fähigen, sittlichen Weltbürger zu machen. Bildung ist in diesem Sinn ein Naturrecht, das aller positiven Gesetzgebung zuvor liegt. Die Adressaten dieses Rechts sind die Eltern- wenn sie denn vorhanden sind- und die Menschengesellschaft, die vom Staat vertreten wird. Der Staat zwingt die Neugeborenen nach einer Säuglingsatempause in die Schule; Schulpßicht ist Rechtspßicht. Die Schule formt die Schüler dazu, möglichst selbständige Bürger zu werden, mit ‹berspringern und Sitzenbleibern: Beide haben das Recht, zu aktiven Gliedern der Gesellschaft geformt zu werden.

Hört man in das Wort hinein, entdeckt auch der Barbar folgendes: Wir bestehen aus vier Teilen, dem Erkennen, Fühlen und Wollen, zusammengefaßt in einem Körper. Das ist schon die Meinung Homers. Die Abfolge: Zuerst erkennt man etwas, das Erkannte erregt zweitens Lust oder Unlust, Attraktion oder Repulsion, darauf folgt drittens der Wille zur entsprechenden körperlichen Handlung. Der gebildete Mensch, so folgern wir, hat aus diesen natürlichen Teilen etwas Zusammenstimmendes gemacht, wozu es freilich der Glücksumstände bedarf- deswegen die Bitte um Einhilfe der Götter. Die Natur ist für die Bildung nicht zuständig; schon die Haustiere wie Hunde und Pferde benötigen eine gute Dressur, um mit sich selbst, den Menschen und der Umwelt zurechtzukommen; um so mehr die Menschen selbst: Ein gutes zeitgemäßes Erkenntnistraining, eine musische Formung der Gefühle, die Erziehung zum vernünftigen Umgang mit eigenen Entschlüssen und für den Körper Handstand und Rolle vorwärts und rückwärts.

Das menschliche Gedächtnis hat seine Geschichte; etwas auswendig zu können bedeutete vor 200 Jahren anderes als heute. Vor 1789 stand neben Lesen und Rechnen das Memorieren im Mittelpunkt der Elementarerziehung. Später lernte man Predigten, Vorlesungen und vor allem klassische Texte möglichst im Wortlaut; Dissertationen sollten nichts Neues enthalten. Zu Platons Zeiten konnten gebildete Griechen die Ilias und die Odyssee auswendig, und zu öffentlichen Rezitationen kamen Zehntausende zusammen. Die Formierung des Menschen durch sein Gedächtnis, seine Initiation durch die geistige Einverleibung tradierten Wissens gehört einer Vergangenheit an, auf die wir nur noch museal und historistisch verweisen; für unsere eigene Bildung und ihre Anstalten ist sie ohne Relevanz, es sei denn, man belebt sie in einer aktualisierten Form.

Arché heißt Anfang und Herrschaft; Herrschaft datierte sich ursprünglich an den Anfang zurück und legitimierte sich durch etwas Uraltes; die Mythen zeigen, daß jedes erfolgreiche Herrschaftshaus göttlichen Ursprungs ist und deswegen zur Herrschaft berechtigt. Auch alles Gute und Wahre geht auf den Anfang zurück, das Böse und die Lüge werden als abtrünnig gebrandmarkt und verfolgt. Die Erinnerung an die vergangenen Taten und Leiden der Geschlechter ist notwendig, um das Herrscherprivileg der feudalen Häuser zu stützen. Selbst revolutionäre Bewegungen wollen nur restituieren, was am Anfang war. "Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?" Luther protestiert gegen die römische Kirche, weil sie von den christlichen Anfängen abgefallen ist. Die Freiheitsbewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts sind verbunden mit der Erstürmung der Rathäuser und Stadtarchive, in denen über die anfängliche Gesellschaftsform berichtet wird. Nicht die Freiheit als solche wird gefordert, sondern the old liberties. Aus der Vergangenheit leiten sich nicht nur Herrschaft und Freiheit ab, sondern die Identität des Gemeinwesens und seiner Bürger. Die pathologischen Deformationen der IRA und der ETA zeigen noch die Macht dieser Identitätsbildungen.

Es ist günstig, die Zeitenwende von der Vergangenheit fort in die Gegenwart und Zukunft symbolisch in das Jahr 1789 zu legen; in ihm faßt sich die politische und die gedankliche Revolution der europäischen Aufklärung zusammen. Wenn Kant 1781 die Kritik der reinen Vernunft als einen Gerichtshof darstellt, vor dem sich Thron und Altar zu rechtfertigen haben, dann erklärt er die Berufung auf ererbte Herrschaft von seiten der Kirche und des Adels für obsolet; Rechtsansprüche müssen sich republikanisch legitimieren, oder sie verfallen. Das politische Ergebnis der Zeitenwende ist die Demokratie, in der die Herrschaft aufgehoben ist in der Selbstherrschaft der Beherrschten und die selbstgewählte Regierung sich nicht in der Vergangenheit bewährt, sondern in der Problemlösung der Gegenwart. Wer die Probleme nicht lösen kann, wird abgewählt und ersetzt. Was zählt, ist die Fähigkeit für die Zukunft, nicht das Andenken an den Anfang. Die Einwanderungsbehörden der USA tilgten das bürgerliche Gedächtnis der Ankömmlinge: Jeder Adelstitel wurde ausgeschwärzt; der Bürger betrat die Neue Welt ohne den Ballast ungleicher Erinnerungen. Seit 1789 ist die Weltauffassung präsentistisch; was eine Person nicht zu leisten fähig ist, kann vergessen werden, es zählen nur die Gegenwart und die Zukunft; daneben gibt es einige Erinnerungsstätten und Museen.

Der globale Markt eliminiert aus seinen Angeboten die Erinnerung und setzt auf den unmittelbaren Verzehr. Die Produktionsstätten können weltweit in Billigländer verlagert werden, lokale Traditionen haben allenfalls dekorativen Wert. Das Know-how entstammt keiner Handwerkertradition, sondern wird dem jüngsten Computerprogramm entnommen, das in nichts an seine anonymen Entwickler erinnert.

Kurz: Das Erinnern, das Aus- und Inwendiglernen, ist aus den Bildungsanstalten radikal eliminiert worden, weil Politik und Ökonomie ohne Erinnerung operieren. Wer für die Aktivierung des Gedächtnisses plädiert, muß sich diese Ausgangsposition vergegenwärtigen und vor diesem Hintergrund argumentieren. Im Elementarbereich sind die gemeinsam auswendig gelernten (guten) Gedichte von größtem Bildungswert für das Individuum und die Lerngruppe; den Schülern wird die Chance gegeben, sich vor der Klasse darzustellen und das Gelernte mimisch und rhetorisch zu präsentieren. In den weiteren Bildungsgängen ist das Auswendigkönnen immer noch ein unentbehrliches Mittel, Kulturtraditionen zu erhalten und neu zu erfinden. Alle Kultur ist imprägniert von ihrer Vergangenheit, die mitgehört, mitgesehen, mitgedacht werden muß, um sie beurteilen zu können.

Die europäischen Bildungsanstalten waren zwei Traditionen der Kultur verpflichtet- dem Christentum und der Antike- und leiteten aus ihnen die verbindlichen Inhalte ab. Die Kenntnis der beiden Ursprünge war obligatorisch für alle, sei sie rudimentär durch den Elementarunterricht oder ausgefeilt und genau. Bis in das 18. Jahrhundert wurden Vorlesungen und Prüfungen und alle akademischen Dissertationen auf Lateinisch verfaßt; der christliche Glaube mit seiner Orientierung an den beiden Testamenten war die selbstverständliche Voraussetzung für jede öffentliche Tätigkeit. Aus beidem folgte ein unbezweifelter Kanon von Inhalten, die auswendig gelernt wurden und Faktum und Norm waren, von Sevilla bis Riga und von Oslo bis Palermo. Ein Kanon beansprucht, unveränderlich zu gelten, manchmal mit der besonderen Note, im genauen Wortlaut keine Änderung zu dulden. Daher darf der Priester bei der Lesung der Heiligen Schrift nicht seinem liquiden Gedächtnis trauen und den Text auswendig vortragen, sondern das Lesen Wort für Wort ist verbindlich. Das Lateinische und das Griechische waren tote Sprachen und teilten so die Unveränderbarkeit der Texte. Wo auch immer Cicero gelesen wurde, es war idealiter derselbe stabile Text. Die Neuformationen in Politik und Glauben begriffen sich grundsätzlich als Rückkehr zu den eigentlichen Ursprüngen.

Mit der Zeitenwende von 1789 sind diese Konsense aufgekündigt, die Vergangenheit ist jetzt tatsächlich vergangen und kann unverbindlich in Museen und Ausstellungen konserviert werden. Die Exponate werden nach anderen Gesichtspunkten gewählt als dem ihrer ursprünglichen Mächtigkeit, sie sollen den Betrachter informieren und erfreuen. Der Ort ist beliebig, die Zusammenstellung auf den Besucher bezogen. Die Differenz von unverrückbarer Vergangenheit in einem festen Ritual einerseits und ihrer beliebigen Ausstellung andererseits ähnelt der Differenz von Feiertag und Ferien. Die Feiertage werden durch die allgemeine Kultur verbindlich für alle festgelegt, die Ferien können nach subjektiven Bedürfnissen auf der Zeitschiene so verteilt werden, daß ein sozialverträgliches Gleichgewicht von Arbeit und Nichtarbeit entsteht. Die Feiertage werden zu Ferien gemacht, weil ihre Herkunft vergessen ist und jeder tun und lassen kann, was er will. Im Angebot: Weihnachten in der Karibik oder in Bahrain.

In den Bildungsanstalten schwindet der normative Wert der Inhalte; sie sind sowieso nur Anlässe für den Erwerb der Kompetenz, irgend etwas überzeugend darzustellen, mit Power-point und vielen Bildern. Dadurch wird der Inhalt selbst austauschbar, das Was ist gleichgültig, es kommt auf die Wirkung des Wie an.

Die antike Mathematik hatte einen ontologischen Wert; Pythagoras wie auch Platon sahen in den Zahlen und geometrischen Gegenständen ausgezeichnete Entitäten und Strukturen alles Seienden und des Erkennens. Der heutige Mathematiker sieht in ihnen effiziente Instrumente, die abgetrennt von der Anwendung keinen besonderen Rang innehaben. Zur Mathematik mag man eine persönliche Neigung und Begabung haben, man kann die Proportionen in der Architektur des Mittelalters und des Barock bewundern, aber von einer ontologischen und epistemischen Dignität der mathematischen Objekte zu sprechen wäre abwegig und nur Ausdruck einer Nostalgie- wir beugen das Knie doch nicht mehr. Bei Platon dagegen war das Quadrivium des insgesamt siebenteiligen Bildungsganges mathematisch konzipiert, es umfaßte Zahlenlehren, Geometrie, theoretische Musik und theoretische Astronomie. "Niemand möge hier ohne Geometrie eintreten", soll über dem Tor der Akademie gestanden haben. Alle Bildung bezog sich auf genau festgelegte Inhalte, die den Bildungswert in sich selbst enthielten - eine von ihnen abgelöste Kompetenzdidaktik und Bildpädagogik war nicht möglich, die unveränderlichen Inhalte selbst waren Seelenführer.

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.