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LI 139, Winter 2022

Rosafarbene Kreuzigung

Komödie und Tragödie des Lebens – Besuch bei Henry Miller 1976

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Henry Miller ist einer der großen Schizophrenen des vorigen Jahrhunderts, der im Gegensatz zu seinem Lehrmeister Nietzsche mit einigermaßen intakter geistiger Gesundheit durchs Leben kam. Das Schizoide ist kein ungewöhnlicher künstlerischer Zug. Es bedeutet, daß man auf andere Art gespalten oder ganz ist, als es der Norm entspricht. „Kommt, ich bin das Licht der Welt! Ich zahle keine Miete, ich arbeite nicht, ich trinke nichts als Blut“, wie eine verrückte Schwarze in The Air-Conditioned Nightmare schreit, Millers Fluch über Amerika. Er selbst sagt in My Life and Times: „Ich habe immer dieses Gefühl, gespalten zu sein, und erlebe, daß der wahre Blickwinkel irgendwo jenseits dieser Gespaltenheit liegt.“ Der Dichter Rimbaud, eines von Millers Vorbildern, betrachtete seinen Wahnsinn als heilig, weil dieser seine Fähigkeit als inspirierter Beobachter kanalisierte. Wir wissen, daß Miller von Systematik, dem göttlichen Überblick, besessen war. Davon zeugen seine Wände, die voll sind mit Listen von Städten, Orten, Personen, Namen. Zugleich sind seine Bücher – alle autobiographisch – ein völlig unübersichtlicher, ungleichmäßiger „stream of unconsciousness“, als wären sie von einem Hirn geschrieben, das mit einem Hammer zerschmettert wurde wie ein Diamant. Das ist Millers Beschreibung von Nietzsches Hirn! Aber überall in Millers Werk stößt man auf diese steinharten leuchtenden Passagen. Er ist ein Dichter des Herzens, zweifellos, aber wenn er am klarsten ist, schreibt er kühl.

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Die Schizophrenie, die Spaltung zwischen Kopf und Seele, Theorie und Praxis, Idee und Realität, Fiktion und Fakten, ist das Markenzeichen der westlichen Kultur, ihr Geniestreich – und möglicher Untergang. Kein Wunder, daß gerade Künstler in dieses besondere Dilemma verwickelt sind und sich auf solche Punkte beziehen müssen, wo die Sprache fehlt, ins Dunkel führt. Vielleicht ist das auch der Ort, wo die Wunde ist. Der Spalt zwischen den Beinen der Frau, der sowohl Sehnsucht als auch Angst einflößt. Für Henry Miller besteht der Konflikt darin, daß es zwischen ihm als Dichter und als Mensch keinen Gegensatz geben darf, obwohl die völlige Übereinstimmung zwischen Fiktion und Wirklichkeit bekanntlich eine Form von Wahnsinn ist. Aber für Miller war entscheidend, daß Geist und Blut miteinander verbunden waren. Ideen müssen in der Handlung, im Körper verankert sein. Wenn in ihnen kein Sex, also Vitalität, ist, sind sie im Leben unbrauchbar. Ideen waren für Miller Leber-Ideen, Nieren-Ideen, Darm-Ideen. Für ihn war ein Buch kein freischwebendes Universum, sondern ein Strom aus Worten, der mit der Wirklichkeit draußen verbunden war. Und wie wenige andere Autoren hatte er mit seiner Arbeit eine Botschaft.

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In der Blütezeit des Feminismus wurde Henry Miller als eine Art Frauenschänder abgestempelt. Vielleicht besaß er – den Büchern nach zu urteilen – auch nicht das „autorisierte Wissen“ über die sexuellen Funktionen der Frau. Aber das „Pädagogische“ paßt nicht besonders gut in Millers Universum, das von unersättlicher Lust durchdrungen ist, die gleichsam an ein unstillbares Bedürfnis erinnerte. Im Gegensatz zu den Don Juans und Casanovas früherer Zeiten ist Henry Miller kein Verführer. Millers Lust gehört ausschließlich mit der Initiative der Frauen zusammen. Don Juans Vor-Lust, die an den Widerstand der Frau, an Überredung und weitere Überschreitungen geknüpft ist, interessiert Miller nicht. In einer Welt, in der die Sexualität verdeckt war und der Mann mit seinem „schmutzigen Bedürfnis“ ganz allein stand, wurde die Sexualisierung der Frau zu Millers dringendem Bedürfnis und „gesunder Mission“. Er träumte nur davon, von Frauen überwältigt zu werden. Anscheinend war er in all seinen Liebesbeziehungen der Schwächere. Mit der besonderen Stärke des Masochisten: „Es fängt damit an, daß ich eine Frau vergöttere, sie idealisiere, und dann stoße ich sie von ihrem Podest herunter. Ich weiß nicht, ob das ganz richtig ist – aber so scheint es sich abzuspielen.“ (My Life and Times).

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Heute, wo der Mensch in der Askese, im Zölibat, durch die Literatur oder in Kursen kosmische Weisheit sucht, hat Henry Miller uns den Weg der fleischlichen Liebe gezeigt als denjenigen, von dem man vielleicht am meisten lernt. Nicht, weil die Befriedigung dort am größten ist, sondern gerade, weil sie am geringsten ist. Daß dies keine Lösung für den sexuellen Hunger ist, weiß Miller. Objektiv gesehen, ist man ja nur wenige Minuten lang befriedigt. Die restliche Zeit besteht aus Ausschweifung, Sehnsucht, Mangel, Enttäuschung, Frust, Einsamkeit, Ablehnung und Zurückweisung. Der fleischliche Weg zeigt uns durch Untreue, was Liebe ist, durch Lüge, was Wahrheit ist, so daß wir die Wirklichkeit des Begehrens und seine Illusion begreifen. Tränen strömen aus diesem ganzen Bereich in Millers literarischem Werk. Wendekreis des Steinbocks wird mit der Widmung „Für sie“ mit einem Abaelard-Zitat aus Die Leidensgeschichte eingeleitet, geschrieben von einem Mönch, dem zur Strafe für seine Liebe zu Heloïse die Hoden abgeschnitten wurden. Durch Millers Werk verfolgen wir seinen desperaten Weg und seinen Zusammenbruch als Männlein auf der Ovarienbahn. Und wir sehen, wie er hinunter auf die Straße stürzt und direkt in ein Pferd rennt, bei dem er endlich auf Verständnis trifft. Erst hier, beim klapprigsten und verlorensten Gaul der Welt. Wahrscheinlich dasselbe Pferd, das Nietzsche umarmte, als ihn Barmherzigkeit überkam und er geisteskrank wurde.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.