LI 130, Herbst 2020
Die gespaltene Nation
Weißer Nationalismus in Amerikas Geschichte und GesellschaftElementardaten
Genre: Analyse, Essay
Übersetzung: Aus dem Englischen von Thomas Stegers
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Textauszug
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Weißen Nationalisten waren die Bürgerrechte, die Regeln für eine Staatsbürgerschaft und die Bundesregierung, die sie sanktioniert, schon immer suspekt. Darauf eingeschworen, ihre Privilegien und ihr exklusives Verständnis von Politik zu verteidigen, stellten sie ihre Vision einer xenophoben und imaginären weißen „Volksgemeinschaft“ gegen den modernen Staat. Traditionen, Mythen, historische Erfahrung, Glaubensgewißheit und Vorurteile standen Freiheitsrechten, Toleranz, Säkularismus, Kosmopolitismus und Wissenschaft gegenüber. Es ist daher konsequent, daß weiße Nationalisten für Berufspolitiker, Bürokraten, Experten, Intellektuelle und „Fremde“ nur Verachtung übrig haben. In ihrer Welt leben Schwule versteckt, Frauen gehören an den Herd, und people of color kennen ihren Platz – und alle sind zufrieden mit ihrem Schicksal.
Dieses Amerika schwebte Donald Trump vor, als er 2016 die Wähler dazu aufrief: „Make America Great Again!“ Ganz egal, wie groß die Unzufriedenheit subalterner Gruppen – ihre Klagen waren nicht authentisch, weil ihre Proteste angeblich fremdbestimmt waren, nämlich von langhaarigen Radikalen, people of color, Marxisten, Kommunisten, Anarchisten, liberalen Idealisten, Juden und anderen „heimatlosen Kosmopoliten“. Daß weiße Nationalisten eifrige Unterstützer von Trump sind, liegt auf der Hand. Sie haben ihre Traditionen. So verurteilten die Befürworter der Rassentrennung in den Südstaaten in den sechziger Jahren die „Freiheitskämpfer“ aus dem Norden, die mit der Bürgerrechtsbewegung zusammenarbeiteten, als überhebliche „carpetbaggers“, politische Abenteurer, die keine Ahnung von „unseren Negern im Süden“ hatten. „Die“ waren nicht in der Lage, „uns“ zu verstehen und was es bedeutet, zu „unserer“ weißen christlichen Gemeinschaft zu gehören. Die Gegenüberstellung von Staat und Gemeinschaft reicht weit zurück und erklärt die grundlegenden Spannungen und Widersprüche, welche die Geschichte Amerikas antreiben. Angeblich wird der Extremismus an den Rand gedrängt. Tatsächlich haben sich die Amerikaner ihr liberales Erbe und ihr politisches System, das zum vital center tendiert, zur alles entscheidenden Mitte, immer zugute gehalten.
Und es stimmt: Die Vereinigten Staaten haben nie eine eindeutig faschistische oder kommunistische Partei erlebt, die eine realistische Chance gehabt hätte, die Macht im Land zu übernehmen. Gleichzeitig währt ihre Existenz als eine gespaltene Nation schon sehr viel länger als alles andere, was einer Demokratie und einem Rechtsstaat nahekäme. Das politische Wahlsystem mit seiner Winner-take-all-Vereinbarung privilegiert unideologische Parteien, die kompromißbereit sind, was wiederum gestützt wird durch eine zwischen Senat und Repräsentantenhaus aufgeteilte Macht, die Befugnisse des Bundes gegenüber denen der Bundesstaaten und eine unabhängige Justiz. Was die Zivilgesellschaft betrifft, ist der Alltag vieler amerikanischer Bürger jedoch gekennzeichnet von Extremismus. Vor allem im Süden und im Mittleren Westen haben rassistische Organisationen, welche die „Gemeinschaft“ repräsentieren, wiederholt Guerillaangriffe verübt gegen den liberalen Sozialstaat, dessen Programme allen armen und arbeitenden Menschen gleichermaßen zugute kommen und sich einer intoleranten rassistischen Wirklichkeit entgegenstellen.
Zwei Seelen wohnen in der amerikanischen Brust, um mit Goethe zu sprechen, und der Kampf zwischen den beiden reicht zurück bis zur Geburt der Nation. Das vital center, die entscheidende Mitte, wurde längst konterkariert durch die widersprüchlichen Ansichten der Gründungsväter, welche die Sklaverei befürwortet und davon profitiert haben, Patrick Henry, Richard Lee und Thomas Jefferson, und andere, Benjamin Franklin, Samuel und John Adams und Thomas Paine, die sich gegen sie aussprachen. Schon damals verlief die Trennungslinie zwischen „Föderalisten“, die eine moderne, zentralisierte Nationalregierung favorisierten, und „Anti-Föderalisten“, welche die ökonomisch rückständigere, landwirtschaftlich geprägte, kleinstädtische Wählerschaft repräsentierten. Schon bald verbanden sich weiße nationalistische Elemente mit solchen Gestalten wie John Calhoun, der von 1825 bis 1832 als Vizepräsident diente, und Andrew Jackson, Präsident von 1829 bis 1837, dessen Amtszeit durch den Genozid und die Vertreibung der Native Americans in Reservate im Westen, entlang des trail of tears, gekennzeichnet war.
Es folgte die Gründung diverser weißer nationalistischer Organisationen: die antikatholischen und antimigrantischen Know-Nothings der 1840er, der Ku-Klux-Klan der 1870er, die Temperance-Bewegung der 1920er Jahre, die Populisten der Südstaaten um Senator Huey Long, die sehr einflußreichen Unterstützer der America-First-Bewegung, die Hitler den Vorzug vor Franklin D. Roosevelt gaben und sich gegen den Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg aussprachen, und schließlich die Anhänger des abscheulichen Senators Joseph McCarthy in den 1950ern. Neben diesen Massenbewegungen und weißen Evangelikalen existierten mehrere kleinere reaktionäre Gruppen. Die Tradition brach nicht ab. Die 1960er brachten die gegen die Bürgerrechtsbewegung gerichteten white councils in den Südstaaten hervor, es folgte die silent majority, die moral majority, die Milizen im Mittleren Westen und die Neonazis, die 2017 in Charlottesville marschierten. Der beharrliche weiße Nationalismus in diesen Bewegungen ist den Anhängern zu einer Art zweiter Natur geworden, immer abrufbereit, immer entflammbar, wenn es die Umstände erfordern. Ihre Parteigänger bezeichnen den amerikanischen Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 immer noch als Sezessionskrieg oder den „Krieg zwischen den Staaten“ und leugnen damit seinen Zweck, die Beibehaltung der Sklaverei.
Die Konföderation bleibt der Hauptbezugspunkt der Fanatiker. Sie identifizieren sich mit der Fahne der Konföderierten und den Tausenden von Denkmälern und Statuen, die der „verlorenen Sache“ gedenken. Daß die meisten dieser Monumente nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurden, ist ihnen egal. Weiße Nationalisten haben sich noch nie sonderlich mit Fakten oder komplexeren Themen wie Staatsrecht oder „Rasse“ beschäftigt. Weiße Nationalisten sehen sich zu ihrer Einstellung berechtigt, wo es ihnen paßt. Den in ihren Augen Minderwertigeren haben sie beständig vorgehalten, sie wären nicht „reif“ für die Staatsbürgerschaft. Daher bliebe es weißen Männern überlassen, ihre Bedürfnisse mit denen der Nation gleichzusetzen: „Weißer Nationalismus“ war das Ergebnis. Es rechtfertigte institutionellen Rassismus, Ungleichheit in allen Bereichen des öffentlichen Lebens und bestätigte darüber hinaus das Gefühl der Hilflosigkeit unter people of color, daß nichts gegen ihre Misere getan werden könne. Wirtschaftliche Ausbeutung war die logische Konsequenz. Die Native Americans wurden von ihrem Land vertrieben und in Reservate gepfercht, schwarze Sklaven arbeiteten ohne Lohn, und auch das Leben der Mexikaner und Chinesen war nicht viel besser. Alle erfuhren Ausgrenzung im Alltag, Verweigerung von Bildungschancen und hatten Angst, mißhandelt oder gelyncht zu werden.
Weißer Nationalismus entzündete sich an der als Bedrohung empfundenen Idee des Egalitarismus der „Reconstruction“. Die Erinnerung an die Antebellum-Südstaaten beflügelte die Gründung des Ku-Klux-Klans und die politische Bewegung zur Einführung der Jim-Crow-Laws in den Nachwehen des Bürgerkriegs. Damit war die Rassentrennung mit all ihren Folgen gesetzlich verankert. Die Reaktion auf die Bürgerrechtsbewegung geschah nicht im luftleeren Raum. Ihr Vermächtnis brachte in den 1940er Jahren die Dixiecrats hervor, die white councils der fünfziger und sechziger Jahre sowie die white militias. Sie bekämpfen mit allen Mitteln jede Sozial- und Wirtschaftspolitik, von der people of color profitieren könnten. Der Konflikt im „house divided“ spiegelt sich wahrscheinlich am besten in der sogenannten great debate von 1850 wider, die zwischen Abraham Lincoln und Stephen Douglas über die Frage der Gleichberechtigung einerseits und weißer Überlegenheit andererseits ausgefochten wurde. Rückblickend läßt sie sich kaum als eine ernstzunehmende Debatte bezeichnen.
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Weiße Nationalisten haben einen großen Anteil an dem sogenannten Krieg der Kulturen. Der Konflikt über das Verständnis der Geschichte Amerikas ist im Grunde ein Streit über das Selbstverständnis weißer Nationalisten. Und zwar deswegen, weil sie, was immer ihre Narrative beinhalten, mehr ausklammern als einbeziehen. Daß sie den Genozid an den Native Americans und die amerikanische Sklaverei ignorieren, ist nur folgerichtig. Repressive Einstellungen gegenüber Schwulen und Frauen werden mit der Bibel gerechtfertigt. Ob bewußt oder unbewußt versichern sich diese Fanatiker damit ihrer eigenen Männlichkeit, was wiederum reicht, die von den „Unmoralischen“ und „Abnormalen“ geführten Kämpfe für Inklusion zu disqualifizieren. Weiße Nationalisten „wissen“, was sie lieben, so wie ihre Kritiker wissen, was sie hassen. Die Tradition zählt: Bei dem Streit um die Bürgerkriegsdenkmäler geht es um Respekt, nicht nur für die „verlorene Sache“, sondern für sie. Diese Statuen und Gedenktafeln sind die einzige sichtbare Anerkennung, die weiße Nationalisten für ihre Standpunkte erhalten. Sie stellen eine öffentliche Rechtfertigung ihrer persönlichen Werte dar, als auch der Narrative, an die sie glauben. Diese Projektion ist gleichwohl bemerkenswert, da weiße Nationalisten sich über Symbole des Verrats definieren, während sie gleichzeitig ihre Kritiker als Verräter betrachten. Weiße Nationalisten benutzen noch immer den Slogan: „America. Love it or Leave it!“
Weiße Nationalisten betrachten die amerikanische Geschichte immer noch als die der weißen Amerikaner. Und so wurde es auch zumeist gelehrt, bis zur Veröffentlichung von Howard Zinns millionenfach verkauften Buches A People’s History of the United States.
Weiße Nationalisten haben wenig Respekt für eine Revision der Geschichtsschreibung. Diese stellt anerkannte Narrative in Frage und betont die (zumeist ausgelöschten) Untergrundtraditionen des amerikanischen Radikalismus. Anerkannte Narrative gerieten während der Kulturkämpfe der 1980er und 1990er Jahre ins Wanken. Auch wenn sich dieses Gebiet ins Internet verlagert hat, sind die Kämpfe nicht abgeflaut. Möglicherweise haben sie sich sogar intensiviert, seit Holocaustleugner, Reaktionäre und weiße Rassisten wie die Amerikanische Nazi-Partei und der KKK die Vereinigten Staaten vor Rassenmischung, jüdischem Kapital, Immigranten und „mud people“ bewahren wollen.
Weiße Nationalisten glauben, ihr Verständnis der Geschichte ihres Landes sei unter Beschuß geraten, und angesichts ihrer intellektuellen Leere ist ihr Bedürfnis nach Bestätigung durchaus nachvollziehbar. Sie betrachten die amerikanische Geschichte als eine Geschichte der Freiheit, als „die Stadt auf einem Berg“, in der alle Kriege gerecht waren, alle ihre „echten“ Bürger arbeitsam, christlich und gottesfürchtig sind. Die Notwendigkeit von Vorurteilen gilt als selbstverständlich. Insofern, als ihr Selbstbild auf der (unverdienten) Überlegenheit der Weißen beruht, leuchtet es ein, daß „echte“ Geschichte nur von weißen Männern (solchen wie sie) geschrieben wurde, mit den besten Absichten und mit den besten Ergebnissen. Gegenteilige Behauptungen sind es nicht wert, ernst genommen zu werden. Projektion vermischt sich hier mit Paranoia.
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Die Privilegierung der Weißen – das weiße Privileg – ist ein bestimmender Faktor in der amerikanischen Geschichte, in der Gesellschaft und ihrer Institutionen. Es gibt kaum eine Facette im öffentlichen Leben, in der African Americans nicht benachteiligt sind. Die Unterschiede betreffen Vermögen und Gehalt, Darlehen und Kredite, Beschäftigung und Bildung, Wohnverhältnisse und exclusionary zoning, Krankheit und Lebenserwartung, Ernährung und Übergewicht, Kindersterblichkeit und Luftverschmutzung, Arbeitslosigkeit und Haftstrafen, Müllabfuhr und Drogenmißbrauch, Alltagsgewalt und racial profiling – die Liste ist endlos. Das sind die Probleme unserer Zeit, und sie zu lösen wird sich möglicherweise als extrem schwierig erweisen. Schon Reverend Martin Luther King Jr. hat davor gewarnt, daß das weiße Amerika zwar dazu bereit ist (wenn auch häufig nur widerwillig), das Stimmrecht und Integrationsprogramme zu unterstützen, die nichts kosten, doch bei Programmen für mehr Wohnungen, Jobs und Bildung, die Milliarden Dollar benötigten, sähe die Sache anders aus.
Für weiße Nationalisten ist alles, was irgendwie nach Fortschritt riecht, der Feind. Ihre Vorurteile sind auch klassenbedingt, doch keins läßt sich auf ökonomische Interessen reduzieren. Sozialpolitik würde ihren Haß nicht beseitigen. Solche „sozialistische“ oder „kommunistische“ Politik ruft nicht nur das Mißtrauen der weißen Nationalisten gegen den Staat hervor und bedroht ihre anachronistische Idee der Gemeinschaft, sondern sie begünstigt die niedrigen Rassen und die „Faulen“ unter ihnen. Opposition gegen Sozialpolitik eröffnet auch die Möglichkeit, sich mit konservativeren Organisationen des Establishments zu verbünden, wie den Republikanern. Eine regierungsfeindliche Haltung, gemischt mit der idealen Vorstellung der Kleinstadt und kaum verhohlenem Rassismus war 2008 die Strategie der Tea Party, und sie ist aufgegangen. Der unerwartete Sieg von Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl machte den Handel perfekt.
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