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Cover Lettre International 131, Antoine D'Agata
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Inhaltsverzeichnis

LI 131, Winter 2020

Apocalypse now!

Über die Mechanik endzeitlichen Denkens

Als man zur Zeit des Mauerfalls das „Ende der Geschichte“ ausrief, wollte es den Beteiligten nicht dämmern, daß sie sich bald schon unter einer Gewitterwolke des Endzeitdenkens wiederfinden würden. Vielleicht hätte das No Future des Punks als Warnung gelten können, ebenso wie der Umstand, daß mit der Postmoderne („dem Ende der großen Erzählungen“) sich eine philosophische Geistesdämmerung übers Land gelegt hat. In dem Maße jedenfalls, in dem der Verweis auf die „künftigen Generationen“ aus der Mode geriet, die Regierenden auf Sicht fuhren oder sich gleich zum Blindflug bequemten, sind die Utopien ins Dystopische hinübergekippt. Der Zeitpfeil hat seine Richtung gewandelt. Fortan war das Paradies nicht mehr im Künftigen, sondern in der Vergangenheit beheimatet. Dabei kann der Exodus aus der Geschichte viele Gesichter annehmen. Während schlichtere Herzen auf die Wiederherstellung ihres gedanklichen Heimatmuseums drängen (Great Again! Take back control), sehnt die versprengte Linke den Niedergang des Kapitalismus herbei (ohne auch nur ein schemenhaftes Bild von der Zukunft entwickeln zu können). Die heißeste Spielart jedoch hört auf den Namen des Anthropozäns und dekretiert, daß die Katastrophe längst stattgefunden hat. Folglich ist es eine logische Notwendigkeit, alle Hoffnung fahrenzulassen und sich auf Katastrophenlinderungsmaßnahmen zu beschränken (ein katechon ohne eschaton, theologisch gesprochen). Mit der Theophanie der Gaia jedoch ist die Geschichte passé. Denn nach „zweihundert Jahren eines nicht erklärten Krieges“ rächt sich die geschändete Erdmutter am Urheber allen Übels, zeigt sich, daß die wahre Naturkatastrophe niemand anders ist als der Mensch. Mag sich dieser Konflikt als Systemkonflikt zwischen den Erdverbundenen und den weltvergessenen Geistern verstehen, ist doch unübersehbar, daß er jenen Dualismus zwischen den somewheres und den anywheres repliziert, der die getrennten politischen Lager vereint. Wenn selbst luzide Denker wie Bruno Latour apokalyptische Töne anschlagen, verwundert es nicht, daß weniger inspirierte Geister auf den Gedanken verfallen, übers Wochenende mal eben schnell die Welt retten zu wollen, ansonsten aber, zu Trompetenschall, auf das Kommen der apokalyptischen Reiter vertrauen.
     Woher nur rührt die Begeisterung für das apokalyptische Denken? Wie konnte sich in einer durch und durch säkularen Gesellschaft eine Religion ohne Religion ausprägen, wie eine durch und durch verwöhnte Konsumentenschar Verhaltensweisen ausbilden, die eine innige Verwandtschaft zu religiösen Erweckungsbewegungen aufweisen, ja sie in mancherlei Hinsicht an Radikalität noch überbieten? Tatsächlich ist letzteres geradezu unausweichlich. Denn insofern sich die zeitgemäße, um die Heilsgewißheit „kupierte“ Apokalyptik ihres metaphysischen Blitzableiters beraubt sieht, trägt sie eine Eskalationslogik in sich. Denn wenn Gott tot ist, kennt die Sünde keine Vergebung, sowenig wie die Bußfertigkeit einen Adressaten besitzt. Und weil keine Jakobsleiter ins Himmelsreich führt, tagt das Jüngste Gericht gleich auf Erden und macht (als volatile Twitterwolke) den Sündern und Apostaten kurzen Prozeß. Allerdings tragen all diese Beschreibungen wenig zur Entzifferung des erratischen Zeitgeistes bei, sowenig wie die Vorarbeiten der Religionswissenschaft hier zur Aufklärung beitragen. Denn all diese Deutungen vermögen nicht zu erklären, warum in einer zutiefst säkularen, konsumistischen Gesellschaft mit der Apokalyptik eine Denkungsart um sich greifen konnte, die man, wenn dies denn keine Contradictio in Adjecto wäre, als „säkulare Dämonologie“ auffassen müßte. Genau dies aber ist der Grund, einen neuen, frischen Blick auf die historische Apokalypse zu werfen.

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SEGNUNG DES POSTFAKTISCHEN
Psychologisch betrachtet, verspricht die Flucht in den endzeitlichen Traum eine große Entlastung: Auf diese Weise verwandelt sich das aktuelle Ohnmachtsgefühl in ein existentielles Überlegenheitsgefühl (das gerade im Augenblick der zivilisatorischen Demütigung überaus zupaß kommt). In jedem Fall läßt sich das eigene Ressentiment, mit höheren Weihen versehen, unkontrolliert ausleben, kommt es darüber hinaus zu einer Mobilisierung der Anhängerschaft. Insofern der Zeithorizont des Apokalyptikers nicht mehr auf die unmittelbare Gegenwart beschränkt ist, sondern sich über Äonen hinweg erstreckt, entflieht er der Dringlichkeit – ja, dem Realitätsprinzip überhaupt. Genau hier liegt die Attraktivität der Apokalyptik. An die Stelle des Realitätsprinzips wird ein metaphysischer Projektor gesetzt, eine Batterie, die Entschädigung, Vergeltung und Erlösung verspricht. Was auf den ersten Blick wie eine Form des Eskapismus anmutet, erweist sich, auf paradoxe Weise, als überaus wirkmächtiges Schild. Denn mit dem Todesmut der Erlösungsgewißheit gerüstet, konnten die aufständischen Juden gegen ihre „verräterische“ Elite, schließlich gegen die Besatzer anrennen.

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Die metaphysische Bühne liefert der Phantasie einen Resonanzraum, den keine Wirklichkeit zu bieten vermag. In der Endzeitgewißheit lassen sich die Machtverhältnisse umkehren, behält man das letzte Wort. Noch das verhinderte, eingekerkerte Selbst kann sich über die Grenzen hinweg träumen, ebenso wie es seinem Elend eine Form der Selbsterhöhung abringen kann: Ich leide, also bin ich! In diesem Sinne verheißt die Apokalyptik eine Entgrenzung, ja geradezu eine Flucht aus der Geschichte. Zugleich öffnet sich mit ihr ein Moment paradoxer Diesseitigkeit. Denn gerade in dem Maße, in dem man sich aus der Zeitlichkeit herausnimmt, gewinnt man an Handlungsmacht (eine Selbstermächtigung, die im Falle des Makkabäer-Aufstands ausschlaggebend wurde). Wie der muslimische Selbstmordattentäter aus der apokalyptischen Heilsgewißheit, dem „siegreichen Tod“, Handlungsmacht ableitet, verwandelt der Apokalyptiker das Jammertal in ein Vorzeichen der Erlösung, ja, des ewigen Heils. Indem das Politische zur Theologie wird, gewinnt es an Radikalität. So kann dem Auszug aus dem geschichtlichen Raum ein Auszug aus dem gesellschaftlichen Raum nachfolgen. Die Chassidim etwa, die mit den Gesetzen der Griechen unzufrieden waren, verließen ihre Wohnorte und zogen in die Wüste, wo sie ungestört ihren Gesetzen und Reinheitsgeboten nachkommen konnten.
     Indes wäre es zu wenig, wenn man das apokalyptische Denken lediglich als Geist der Negation auffassen würde. Denn mit der Fähigkeit, die Wirklichkeit von einem utopischen Nicht-Ort aus zu betrachten, geht die Möglichkeit einer symbolischen, kreativen Neuschöpfung einher. Weil die Welt vor der Folie des Ewigen nur als hinfällige Konstruktion erscheinen kann – eine dysfunktionale machina mundi –, gewinnt der Fundamental-Oppositionelle einen neuen, archimedischen Blickpunkt hinzu. So wie ihn dieser Blickpunkt mit Handlungsmacht ausstattet, erlaubt die Weltfremdheit, zu der das apokalyptische Denken erzieht – als maximale hermeneutische Distanz –, eine tiefere Einsicht in komplexe, psychische Zusammenhänge. Dies wird deutlich an jener ingeniösen Usurpation, wie sie der Verfasser des Vierten Makkabäer-Buchs unternimmt: Mit einer überaus präzisen Intention wird dem Feind ebenjene Instanz entwunden, auf der doch sein Superioritätsanspruch beruht. Daß sich die Verherrlichung des Märtyrertods als Sieg der Vernunft, ja als überlegene Philosophie gebärden kann, ist kein Ausrutscher. Denn die Apokalyptik, die aus den Märtyrern „wandelnde Zeichen“ macht, ja, die das Buch insgesamt heiligspricht, nein, heiligschreibt, läßt sich als kulturelle Kodifizierungsmaßnahme auffassen. Insofern ist das gewaltige, langanhaltende Echo, das der überschaubaren apokalyptischen Literatur zuteil geworden ist, durchaus bezeichnend.
     Denn mit der Apokalyptik etabliert sich die Macht der Fiktion oder, politisch betrachtet: eine utopische Batterie, die jede soziale Bewegung mit geradezu unerschöpflichen Energieressourcen versieht.

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.