LI 146, Herbst 2024
Blackbox Psychotop
Warum die universale Maschine unser aller Unbewußtes darstelltElementardaten
Textauszug
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Neuartiger Wissenskörper
Wenn unsere Gegenwart von den Wirren der Identitätspolitik, von Apokalyptikern, Kulturkriegern und vagierendem Ressentiment heimgesucht wird, so kann man in alledem das begriffslose Zeugnis einer tiefen Wertekrise ausmachen. Hier verschafft sich ein jedermann Gehör und macht dem eigenen Unbehagen Laut – und weil sich die Identitäten entkernt und die Institutionen ausgehöhlt haben, beeilt man sich, selbige nun mit aller Macht zu behaupten. Bedient man sich mit Verve der sozialen Medien, lassen sich kurzfristig durchaus Prestige- oder Geländegewinne erzielen, langfristig jedoch steht man doch auf verlorenem Posten. Denn die Welt der Repräsentation wird dem digitalen Psychotop Platz machen müssen. Begrüßte man diesen Wandel, anstatt ihn zu verdammen, wäre man nicht mehr mit einem ort- und begriffslosen Phantomschmerz geschlagen, sondern in einen Zustand der Geistesgegenwart eingetreten. Und hier würde spürbar, welche Entlastung es wäre, wenn man sich fortan nicht mehr über die Phantome der Vergangenheit austauschte, sondern das gemeinsame Schicksal in den Blick nehmen könnte: das Psychotop der Gegenwart. Damit ausgerüstet, würde man nicht mehr über verflossene Gründungsmythen reden (Europa, Christentum, Islam, die Logik der Repräsentation), sondern sich mit der sehr viel drängenderen Frage beschäftigen, wie sich die Logik der universalen Maschine auf unsere Gegenwart auswirkt.
Welch grundfremde Perspektive mit dieser Frage in die Welt kommt, läßt sich an einem kleinen Gedankenexperiment verdeutlichen: Hätte man sich vor Jahren Gedanken darüber gemacht, worin die Signatur des digitalen Zeitalters besteht, wäre man unweigerlich auf den bereits erwähnten Gedanken gestoßen: nämlich, daß jede Arbeit, wenn sie denn digitalisiert worden ist, notwendig ins Museum der Arbeit eingeht – von wo aus sie jederzeit und überall abrufbar ist. Hält man sich des weiteren vor Augen, daß das digitale Zeitalter (der Formel x=xn folgend) das Knappheitsdogma der Ökonomie hinter sich läßt, ließe sich schlußfolgern, daß eine solche Arbeit, ein für allemal erledigt, ein wunderbares Geschenk an die Welt hätte darstellen können.
Stellen wir uns also vor, daß ein Regierungschef der 90er Jahre zu dieser Einsicht gelangt wäre. Und weil er, historisch gebildet, die Geschichte F. D. Roosevelts und des Manhattan Project der 40er Jahre vor Augen gehabt hätte, wäre er zu der Entscheidung gelangt, die Intelligenzija seines Landes zu versammeln, mit dem Ziel, ein digitales Bildungssystem zu errichten, das, wie ein Computerspiel, jedes Kind genau dort abholt, wo es sich gerade befindet (auf jene personalisierte Weise, wie wir uns dies von unseren KI-Assistenten erhoffen). Nun könnte der geneigte Leser stirnrunzelnd einwenden, ihm wäre unerfindlich, warum der Autor einen solch finsteren Vergleich bemühen muß. Hier wäre zu antworten, daß der wissenschaftliche Koordinator des Manhattan Project, Vannevar Bush, ein Computerwissenschaftler war, der sich nur gezwungenermaßen mit dem beschäftigte, was er als nuklearen Kopfschmerz bezeichnete, während er seine Hauptaufgabe vielmehr darin sah, die Heerscharen unterschiedlichster Wissenschaftler, über alle Disziplingrenzen hinweg, zur Kooperation zu bewegen. Dieser Einsicht wiederum entsprang die Memex-Apparatur, das Modell jener Wissensmaschine, der sich das Arpanet verdankt, der Vorläufer des Internets. Als Pionier des digitalen Psychotops beließ es Vannevar Bush jedoch nicht bei diesem Modell, sondern machte sich in den 50er Jahren mit einem Text einen Namen, der unter dem Titel Science. The Endless Frontier das Paradigma der Wissensgesellschaft intonierte.
Liest man die Geschichte des Manhattan Project vor diesem Hintergrund, wäre nicht der Vernichtungswunsch, sondern die Stiftung eines neuartigen Wissenskörpers ausschlaggebend gewesen – und genau diese Einsicht wäre die Grundlage jener Entscheidung gewesen, zu welcher der Regierungschef unseres Gedankenexperiments gelangt wäre. Wie im Los Alamos der 40er Jahre hätten sich also eine Menge von Wissenschaftlern jedweder Couleur zusammengefunden, die allesamt darin übereingestimmt hätten, das intelligenteste, menschenfreundlichste und zukunftstauglichste Bildungssystem zu programmieren – ein Gesamtkunstwerk, das schon aus diesem Grund die Fachgrenzen transzendiert und jene Interdisziplinarität geschaffen hätte, die in der parzellierten Wissenschaftslandschaft der Gegenwart nur als Wunschfigur übrig ist. Diese geteilte Aufgabenstellung allein hätte schon eine Revolution dargestellt.
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