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Lettre 142 / Kunst Erich Fischl
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Inhaltsverzeichnis

LI 142, Herbst 2023

Die Macht des Monsters

Die telematische Guillotine oder die Fernbedienung der Exekutive

Da thront er, der insgeheime Souverän, von der Welt abgeschirmt, im Zustand vollendeter Unsichtbarkeit. Würde sich der Schirm seinerseits umkehren und ihn zu filmen beginnen, sähe man ihn: die Fernbedienung in der Hand, locker im Handteller, flackernden Blicks. Dahingefläzt, in der Nase popelnd, die Hand am Geschlecht. Man sähe, wie er die Welt in sich hineinstopfte, mit seinen gefräßigen Augen, dem sich öffnenden, schließenden Mund. Man sähe sein Mienenspiel, fasziniert oder glotzend, seine Kauwerkzeuge, die sich öffnen und schließen, wie die Kiemen eines großen Fischs, eine in Schüben sich abstumpfende und aufhellende Physiognomie. Man sähe ihn belustigt, erheitert von dem Gewese, das seine Hofnarren vor ihm aufführen, die Scharen von Bauchtänzerinnen, Lustknaben, Feuerwerkern, seine Doubles, Hofschranzen und Marionetten. Das wäre das Allermerkwürdigste an diesem Bild: die Verschiebungen seiner Stimmung, sein Jähzorn, seine Jäh-Lust, die Art, wie sein glasiger Blick eine andere Färbung annimmt. Oder manchmal nicht einmal mehr das. Denn da wäre, als Zeichen eines solchen Stimmungswandels, gar kein Mienenspiel mehr, bloß das Zucken des Fingers ...
     Nähme man dem König seine Entourage, seinen Schein, seine Zerstreuung, so säße da ein Mensch voller Elend (Pascal). Und vielleicht ist es das Dilemma unseres Königs, der dort in seinem Schattenkabinett hockt, allein mit seinem Flimmerkasten, daß ihm nichts geblieben ist als Zerstreuung – bei gleichzeitigem Unvermögen, das Zerstreute irgendwie zusammenfassen zu können. Wenn er, die Fernbedienung in der Hand, sein Zepter schwingt, so hat er eine phantastische Macht, aber diese Macht findet zu keinerlei Konzentration, sondern bleibt, dem Instrument seiner Herrschaft geschuldet, phantastisch
     Und weil dieser König nicht das Zeug hat zum Philosophen, bekümmert er sich nicht um die Frage, wie das Ding in seiner Hand funktioniert, geschweige denn, daß er in die Abgründe der Legitimitätsfragen oder der Metaphysik hinabstiege, der spitzfindigen Erwägung etwa, ob dieser Flimmerkasten nicht eigentlich als Hausaltar und sein täglicher Dienst folglich als eine Art kultischer Verrichtung aufzufassen sei. Chip ist Chip, sagt er sich und stopft sich, während eine Hand den Drücker betätigt, mit der anderen seine Chips in den Mund, ein Couchpotato, übergewichtig, gelangweilt, aber mit einem ungeheuerlichen Verdauungsapparat begabt. Kann schon sein, daß dieser Konservenfraß nicht sonderlich nahrhaft ist – aber er hat den unschätzbaren Vorteil, daß man die Welt in mundgerechter Form in sich hineinschlingen kann, daß kein Fremdkörper, nichts Unvorhergesehenes in die königliche Weltfremdheit dringt. Und dies erfüllt ihn mit einer tiefen, befriedigenden Ruhe. Und bisweilen: mit noch tieferer Melancholie. Wie schön wäre es doch, sich unters Volk zu mischen, bei den Ränken, Kabalen und all dem Trubel mitzutun – wenn es bloß nicht so anstrengend wäre. Und so gefährlich, wer weiß? Insofern ist es nur botmäßig, wenn sich die Außenwelt beeilt, ihm, in dosierter Form, das Leben auf des Messers Schneide zu bieten. Natürlich wird ihm ein bißchen übel, wenn Blut fließt und Kettensägen menschliche Leiber zerteilen, aber er lechzt doch danach, diese ungefilterte, schmutzige und barbarische Kost wenigstens mit den Augen verspeisen zu können – und so zappt er sich durch sein Reich, stets auf der Suche nach irgendeinem pyrotechnischen Raffinement, irgend etwas Neuem und noch nie Dagewesenem. Mag sein, daß dies nicht mit dem klassischen Mäzenatentum zusammengehen mag, aber im Register der special effects zeigt dieser König sich von seiner großartigsten Seite, wird er doch, sofern es seiner Zerstreuungssucht dient, niemals müde, die bizarrsten Geister und Experimente zu unterstützen. Ein Connaisseur der Effekte, aller erdenklichen Spielformen, gibt es nur eines, was ihm verabscheuenswürdig erscheint: das, was unsichtbar bleibt. Das also, was sich nicht einfach (auf Knopfdruck) zerstreuen läßt. Wie Viren zum Beispiel oder die nicht minder dunklen Kräfte der Ökonomie, die sein Reich mit hartnäckiger Regelmäßigkeit heimsuchen. Hier liegen die wahren Quellen der Insurrektion: daß es einen Täter geben sollte ohne Gesicht und Adresse ...

WENN DER KÖNIG KUNDE IST  ...

Dieser König, den niemand gekrönt hat, der namenlos ist und unsichtbar, ist das Objekt allumfassender Betriebsamkeit – seine Hoflieferanten überbieten sich darin, ihm allerlei unerhörte, wahrhaft königliche Genüsse ans Herz zu legen. Aber da auch sie durch einen gläsernen Schirm von ihm getrennt sind, wissen sie nicht, wo sein Herz schlägt. Und so ist es vielleicht gerade das Maß seiner Ungreifbarkeit, welches den Schlüssel zu den nicht enden wollenden Offerten liefert, zu den Heerscharen von Deutern, Psychographen, die den Wink seines Fingers, die elektrische Oberflächenspannung auf seiner Haut hochrechnen zu Trends und Tendenzen. So hart ist der Kampf um seine Aufmerksamkeit, daß die Strategien, die ersonnen werden, um ihm die rechte Losung ins Ohr blasen zu können, in regelrechte Vergewaltigungsphantasien einmünden. Denn es geht darum, ins Innere seines Inkognitos einzudringen, sich seiner zu bemächtigen – so, daß die Vergewaltigung nicht als solche erkennbar ist, sondern den Gipfel der Lüste verheißt. 

(…)

Sagen wir’s rundheraus: Was man sich hier hochgepäppelt hat, ist ein Monster. Ein unfaßbares Gebilde, das sich jeglicher Kontrolle und Berechenbarkeit entzieht. Und auch wenn man es lange nicht hat sehen können, vielleicht nicht hat sehen wollen: Dieses Monster ist eine politische Macht. Wobei die Frage sich stellt, woher diese Macht rührt – und in welcher Form sie sich artikuliert. Denn diese Macht ist stumm. Und weil sie außer sich nichts für demonstrationswürdig hält und sich selbst ebensowenig, hat sie es auch nicht nötig, hinaus auf die Straße zu gehen. In diesem Sinn geht auch die Rede von der schweigenden Mehrheit an der Realität des Monsters vorbei, sitzt da doch immer nur einer, der knabbert und schaut. Und dann, urplötzlich, handelt, mit diesem kleinen Dingsda in seiner Hand, mit dem Druck eines Fingers, der im Sensorium des Kollektiven ein telematisches, elektrisches Echo erzeugt. 
     Im Glauben, daß man damit den neuen Verhältnissen Tribut zollt, hat man sich angewöhnt, von einer „medialen Demokratie“ zu sprechen. Freilich ist dies viel zu ungenau – suggeriert es doch, daß das Politische, in den medialen Raum überführt, noch immer über vermittelnde Instanzen verfügt, einen gemeinsamen Kanon, gesellschaftliche Verabredungen. Aber die Präsenz des Monsters ist stumm und begriffslos. Wenn sie dennoch als dunkler Schatten über den Akteuren thront (die nicht von ungefähr die gläsernen heißen), so ist es wie in den Zeiten der Revolution, als in der Nationalversammlung debattiert wurde, während draußen, auf der place de Grêve, die Silhouette der Guillotine sich erhob: der eigentliche Held der Revolution. 
     Die Fernbedienung ist eine telematische Guillotine. Erhebt irgendeine Stimme im Reich des telematischen Monsters sein Haupt, irgendein zaghafter, unfertiger Gedanke, dessen Unterhaltungswert fragwürdig ist oder ärger: dem jene dunkle Unverständlichkeit eignet, die dem Monster so abscheulich ist wie die Turbulenzen der Börse, so vollzieht der Finger am Drücker sein Urteil. Nicht wirklich bewußt, sondern mit dem Gleichmut, der Fahrigkeit des überanstrengten Souveräns. So besehen hat die Revolution, die Zeit des Terreur nicht aufgehört, sie hat sich, in Gestalt der Fernbedienung, lediglich symbolisiert. Ein kleiner switch – und irgendwo, in einer der fernen Provinzen seines Reichs, am unaufgeräumten Schreibtischs eines Redakteurs, fällt die Entscheidung. Ein Papier, ein Projekt, irgendeine Stimme, die das Urteil spricht: nicht mehrheitsfähig. Kopf ab.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.