LI 148, Frühjahr 2025
Freie Radikale
Die moderne Massengesellschaft und der Totalitarismus der Gegenwart
Elementardaten
Textauszug
(…)
Man muß sich klar machen, daß man nicht viel gewinnt, wenn man das totalitäre Denken als Irrsinn, ja als Massenpsychose betrachtet. Denn insofern es massenhaft auftritt, wird das totalitäre Denken nicht als psychotisch erlebt, sondern kann einen regelhaften, durchaus rationalen Anstrich annehmen. Nicht selten gar nimmt es die Form einer Gesellschaftsverbindlichkeit an – und wird damit zum Klebstoff, welcher eine Gruppe, eine Partei oder eine Nation mit einem Zugehörigkeitsgefühl ausstattet. Mögen Nationalsozialismus und Kommunismus auch einige Verwandtschaft zum religiösen Denken aufweisen, wird das Phänomen lesbarer, wenn man, statt zu einer religiösen Lesart Zuflucht zu nehmen, sich mit der modernen Prägung des Totalitarismus beschäftigt. Wenn der Massencharakter, strukturell betrachtet, eine Charakteristik des totalitären Denkens ist, und wenn sich dieses dadurch von der tradierten Religiosität abhebt, wäre die folgerichtige Frage: Wie kommt es zur modernen Massengesellschaft?
Unter Strom
Meine Antwort wäre, daß die moderne Massengesellschaft mit der Entdeckung des Vakuums und der Elektrizität einhergeht.7 Erst auf dieser Basis wird jene Form der telematischen Gesellschaft denkbar, die in Gestalt der Massenmedien, namentlich aber des Internets zu einer globalen Ordnung geworden ist. Wenn Lenin gesagt hat, daß Kommunismus „Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ des Landes sei, so läßt diese Bemerkung durchblicken, daß der ideologischen Gleichschaltung eine technologische Gleichschaltung vorausgeht. Ein wunderbares, geradezu prototypisches Bild für diese neuartige Masseformation findet sich in einem der frühen Versuche zur Elektrizität. Weil man im Jahr 1746, in Gestalt eines Kondensators, Elektrizität zu speichern vermochte, versammelte der Abbé Nollet, der Hauslehrer Ludwig XV., mehrere Hundert Kartäusermönche auf einem Feld im Norden Frankreichs. Daselbst wies er sie an, einen Kreis von mehreren Hundert Metern Durchmesser zu bilden und einander mit Kupferdraht zu verkabeln. Als dies geschehen war, berührte der Abt eine kleine Antenne, die aus einem wassergefüllten Glasbehälter, dem Kondensator, herausschaute – und was passierte? Alle Mönche begannen zu zucken – gleichzeitig.
Massenhafte Erregung
Was wie eine höchst okkulte Versammlung anmutet, stellte eine höchst rationale, nachgerade cartesianische Versuchsanordnung dar. Denn die dem Experiment zugrundeliegende Frage lautete: Wie schnell bewegt sich jenes elektrische Fluidum, das man über Reibung mit Katzenfell in einem wassergefüllten Gefäß hatte speichern können und von dem man in Erfahrung gebracht hatte, daß es sich über Kupferdraht, ebenso wie über den menschlichen Körper im Raum verbreiten konnte. Die überraschende Antwort des Experiments war: Die Elektrizität bewegt sich so schnell, daß es (anders als in den La-Ola-Massenbewegungen unserer Fußballstadien) keinen mit dem Auge beobachtbaren Phasenversatz zu sehen gab. Und weil die Elektrizität, lichtgeschwind, eine instantane Massenbewegung erzeugte, hatte man, in Gedanken zumindest, die Entfernung aus der Welt entfernt, hatte sich so etwas wie eine Masseformation etabliert – oder wie Kant es später formulieren sollte, eine Geschichte, die in weltbürgerlicher Absicht voranschreitet.
(…)