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Lettre 144, Kunst Mathias Deutsch
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LI 144, Frühjahr 2024

Replay des Mittelalters

Über Falschmünzer, Werteverlust und den Zynismus des Herzens

(...)

Nimmt man das Weichbild der Gegenwart in den Blick, kann man versucht sein, die Wiederkehr längst verschwunden geglaubter Furien zu konstatieren. Steigerte sich bereits MeToo vereinzelt in einen Anklagefuror hinein, der wie selbstverständlich die Form eines digitalen Prangers annahm, zeigt die Begeisterung, mit der ein Teil unserer Klimajünger sich Untergangsphantasien hingibt, daß man es weniger mit einer utopischen als mit einer millenaristischen Bewegung zu tun hat. Und wie sich die Geißler des Mittelalters der Selbstzüchtigung hingaben, erliegt der eine oder andere Theoretiker der Dekolonisierung seinerseits der Versuchung, die kulturelle Selbstgeißelung als Ausweis einer überlegenen Moralität zu zelebrieren. All diesen Übertreibungen ist gemein, daß sie dort, wo sie den Zweifel und die Ambivalenz verstummen lassen, ihr Heil in der Phrase, wenn nicht gar in der Pädophrastie suchen. Kindermund tut Wahrheit kund. Weil damit der Weg ins Phantasialand vorgezeichnet ist, gerät das historisch geschulte Auge in eine Form der Doppelbelichtung hinein. Hierbei erscheinen Bewegungen wie die Letzte Generation oder Fridays for Future wie eine Reinszenierung der Kinderkreuzzüge, während das allfällige Green-, Pink- oder Whitewashing der Großindustrie die Erinnerung an den mittelalterlichen Ablaßhandel weckt. Der Eifer wiederum, mit dem sich die Verfechter der LGBTQIA+ über die Frage des Geschlechts hermachen, gemahnt an die spitzfindigen Debatten, welche die mittelalterlichen Scholasten ehedem über das Geschlecht der Engel geführt haben. Und wie dereinst im philosophischen Nominalismus lösen sich Realitäten zu Sprachcodes auf. Hat man die Welt solcherart gefügig gemacht, mögen sich die zeitgenössischen Sprachpolizisten, inquisitorisch ermächtigt, als Avantgarde einer großen Reinigung wähnen. Und in Ermangelung eines verheißungsvollen Zukunftsprojekts erschöpft sich ihre Mission darin, daß man sich all der Apostaten, Leugner und Häretiker entledigt, die Zweifel an der Toxizität des, je nachdem, als fossil, patriarchal oder imperialistisch deklarierten Gesellschaftssystems äußern.1 In diesem Sinn ist die vielbeschworene Klimakatastrophe nicht nur ein Problem, sondern geradezu eine Lösung, vermag die dräuende Apokalypse einmal das Unbehagen in der Moderne zu sedieren, während sie zum anderen als intellektuelles Passepartout funktioniert. Nun ist es leicht, sich über diesen Rückfall in eine apokalyptische Säkularreligion zu belustigen – oder ganz allgemein den Wahnsinn der Massen anzuprangern. Sehr viel komplizierter hingegen ist die Beantwortung der Frage, wie eine aufgeklärte, liberale und freiheitliche Gesellschaft in derartige Muster hat zurückfallen können. Wie war es möglich, daß eine Gesellschaft, die sich aus ihrer religiösen Verankerung herausgelöst hat, eine Säkularreligion hat entbinden können, die sich so eifernd wie die ihrer christlichen Ahnherren gebärdet?
     Tatsächlich kommt man mit einer bloßen Kritik den Ursachen dieser Entwicklung nicht auf den Grund. Dies rührt nicht zuletzt daher, daß man es in Ermangelung eines verheißungsvollen, positiven Zukunftsprospekts vor allem mit Figuren des Ressentiments zu tun hat, die sich in Memes, klicktivistischer Geschäftigkeit und tribaler Mobilisierung erschöpfen. War der unstillbare Groll stets ein Merkmal aller Beladenen, ist das Novum, daß nun auch hochmögende Institutionen, ja selbst der akademische Diskurs sich diesen blinden Reflexen nicht zu verschließen vermögen. Folglich bleibt die Schlußfolgerung übrig, daß alledem ein tiefgreifender gesellschaftlicher Paradigmenwechsel zugrunde liegen muß, eine Entwertung der Werte, bei der am Ende nur der Wille zur Macht übrig bleibt. In der Tat geht es, wie schon die Worte verraten, beim virtue signaling oder der Symbolpolitik nicht mehr um die Sache, sondern nur um die Performance – mag diese nun der Anschlußfähigkeit oder dem Privilegienerhalt dienen. Folglich kann man sich mit einer Form der Bullshit-Produktion begnügen, ja, ist es geradezu Machtkalkül, daß man Großformeln emittiert, deren Nennwert im flagranten Mißverhältnis zum Materialwert stehen. Und weil das Phantasma sonderbare Blüten treibt, mag sich ein Jungpolitiker bei der Kritik seines Gegners zu der Aussage versteigen, dieser sei nicht bloß eine Gefahr für die Demokratie, sondern gleich für den ganzen Planeten. 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.