LI 142, Herbst 2023
Doing the Work
Die protestantische Ethik und der Geist der WokenessElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Englischen von Rita Seuß
Textauszug: 7.396 von 30.154 Zeichen
Textauszug
Über Wokeness zu schreiben hat mindestens zwei Tücken. Zum einen, daß jede Kritik an ihren Auswüchsen den Vorwurf des Rassismus, der Fremdenfeindlichkeit und der Transphobie, der Frauenfeindlichkeit oder der Vorherrschaft der Weißen, der white supremacy, provoziert. Das andere Problem ist der Begriff selbst, der ein Schimpfwort der extremen Rechten, ein Schlachtruf der progressiven Linken und eine Peinlichkeit für viele Liberale ist.
Es besteht keine Einigkeit darüber, was „woke“ eigentlich bedeutet. Die Rechten machen es für alles mögliche verantwortlich, von den zunehmenden Schießereien an Schulen bis zum Zusammenbruch der Silicon Valley Bank, während viele auf seiten der Linken, die als woke bezeichnet werden, sich als Aktivisten im längst überfälligen Kampf für soziale und antirassistische Gerechtigkeit betrachten. Diese Divergenz ist nicht immer nur politischer Natur. Tatsächlich scheint sie manchmal geradezu antipolitisch zu sein. Debatten über Wokeness sind, wie das Wort schon sagt, oft ein Test für moralisches und spirituelles Aufgeklärtsein.
(…)
Wenn wir Wokeness als ein im wesentlichen protestantisches Phänomen verstehen, können wir auch die Logik einiger Rituale, die in den letzten Jahren üblich geworden sind, besser verstehen: insbesondere die öffentliche Entschuldigung. Ein Element, das die protestantische Tradition von den anderen abrahamitischen Religionen unterscheidet, ist die Bedeutung des öffentlichen Bekenntnisses. Katholiken legen vor einem Priester, also unter vier Augen, die Beichte ab und werden von ihren Sünden losgesprochen, bis es an der Zeit ist, ein weiteres Mal zu beichten. Viele Protestanten werden ermutigt, ihre Tugendhaftigkeit durch ein öffentliches Glaubensbekenntnis zu bekräftigen.
Es ist inzwischen eine allzu vertraute Geschichte: Ein Mann, manchmal auch eine Frau, äußert eine Meinung oder verwendet ein Wort, das als unsensibel oder beleidigend empfunden wird. Er oder sie entschuldigt sich öffentlich und bietet an, eine Art Buße zu tun, die als ausreichend angesehen werden kann oder auch nicht. Entschuldigungen dieser Art sind so gängig geworden, daß ihre Aufrichtigkeit oft angezweifelt wird. Was zur Folge hat, daß immer neue tief empfundene Reuebekundungen gefordert werden und so weiter.
Die Entschuldigung kann sich auf eine persönliche Verfehlung beziehen: ein Professor, der beim Vorlesen eines literarischen Textes das N-Wort ausspricht, oder ein Arzt, der sagt, der „strukturelle Rassismus“ trage nicht die Hauptschuld an den gesundheitlichen Problemen von Afroamerikanern. Sie kann sich aber auch auf ein historisches Unrecht beziehen, für das, wie gefordert wird, die politische Führung die Verantwortung übernehmen müsse. Dies geschieht häufig in Staaten mit einer protestantischen Tradition. Im vergangenen Dezember entschuldigte sich der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte für die Rolle der Niederlande im transatlantischen Sklavenhandel. Rutte war der erste niederländische Ministerpräsident, der dies tat, und auch das erst nach langem Zögern.
Solche Entschuldigungen können helfen, historische Wunden zu heilen. Der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt, der 1970 vor dem Denkmal des jüdischen Ghettos in Warschau auf die Knie sank, wird für diesen Akt der offiziellen Sühne zu Recht gefeiert. Aber sich für eine Meinung entschuldigen zu müssen, die nicht den zeitgenössischen moralischen Überzeugungen entspricht, ist eine völlig andere Geschichte, etwas, das man eher in ideologischen Diktaturen erwarten würde – oder in strengen Religionsgemeinschaften.
(…)
Für die heutigen Erben der protestantischen Ethik definiert sich Status dadurch, daß man zu gesellschaftlichen und kulturellen Problemen die richtige Meinung hat.
Das ist verbunden mit einer Verschiebung der Positionen innerhalb der Linken: von der Vertretung der ökonomischen Interessen der Arbeiterklasse hin zur Unterstützung kultureller und gesellschaftlicher Anliegen. Diese Verschiebung, die in vielen westlichen Ländern zu beobachten ist, fiel mit der schwindenden Macht der Gewerkschaften zusammen, besonders im Großbritannien und in den Vereinigten Staaten der achtziger Jahre, als Margaret Thatcher und Ronald Reagan die Idee propagierten, Freiheit sei in erster Linie eine Frage der freien Märkte. Doch die kulturelle Politik, die racial identity, Feminismus und Befreiung von Schwulen und Lesben einschließt – alles notwendige und lobenswerte Anliegen –, hatte bereits in den sechziger Jahren begonnen, sich bei den Progressiven durchzusetzen.
Der große Keil, der in den Vereinigten Staaten die Gesellschaft spaltete, war der Vietnamkrieg, der von vielen Gewerkschaftsmitgliedern unterstützt wurde, die nicht besonders progressiv waren, wenn es um die Bürgerrechte der Schwarzen ging. Über die Politik der Demokratischen Partei zu jener Zeit schrieb Richard Rorty, die Linksliberalen seien lange davon ausgegangen, daß mit der Beseitigung der Ungerechtigkeiten und des Egoismus, die dem Kapitalismus innewohnen, auch das Übel der rassistischen Diskriminierung verschwinden würde. In den sechziger Jahren jedoch begann die Linke, ihr Hauptangriffsziel vom ökonomischen Egoismus auf einen sozialen und kulturellen Sadismus zu verlagern. „Die Erben der Neuen Linken der sechziger Jahre“, schrieb Rorty, „haben in den Hochschulen eine kulturelle Linke geschaffen. Viele ihrer Vertreter spezialisieren sich auf eine sogenannte ‘Politik der Differenz’ oder ‘der Identität’ oder ‘der Anerkennung’.“ Und dabei spielten die Interessen der Arbeiter, insbesondere der weißen Arbeiter, nie eine große Rolle.
In Europa, wo Schuldgefühle wegen des Kolonialismus eine ähnliche Rolle spielten wie die Schuldgefühle der weißen Amerikaner wegen der Sklaverei, nahm diese politische Tendenz oft die Form des Drittweltismus an. Nichtwestliche Diktatoren wurden idealisiert, solange sie sich sozialistisch nannten, und die Übel in der Welt wurden dem westlichen Imperialismus angelastet. Dies führte zu vielen Absurditäten – dem Mao-Kult oder, in einigen fehlgeleiteten Kreisen, der Bewunderung für die mörderischen Roten Khmer in Kambodscha.
Die Politik der Differenz wurde oft von Schwarzen, Frauen, Schwulen und Lesben und anderen initiiert, die sich diskriminiert fühlten, und erst später von Angehörigen der weißen Elite aufgegriffen.
(…)