LI 100, Frühjahr 2013
Frauen in Indien
Die Bürger des Subkontinents begehren gegen die Regierung aufElementardaten
Genre: Bericht / Report, Landesporträt
Übersetzung: Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer
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Textauszug
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Als die Nachricht von der Gruppenvergewaltigung publik wurde, kam es in der Stadt zu einem Sturm der Empörung. Der Grund hierfür ist schwer zu erkennen. Oder, um genauer zu sein: Es ist schwer verständlich, weshalb gerade dieser Fall solchen Zorn, eine derart starke Reaktion auslöste. Nach der Statistik hatte Delhi im vergangenen Jahr fast 600 Fälle von Vergewaltigung erlebt; alle zwanzig Sekunden wird in Indien eine Frau vergewaltigt. In der Mehrzahl der Fälle führt das außer zu Protesten von Frauengruppen kaum zu einer Reaktion. Was war an diesem Fall anders?
Diese Frage läßt sich nicht so leicht beantworten. In dem Jahr vor diesem Fall hatte es in Delhi wie auch in anderen indischen Städten zunehmend massive Proteste gegen die Korruption gegeben. Eine Bewegung unter der Führung des Gandhi-Aktivisten Anna Hazare hatte Tag für Tag Hunderttausende auf die Straßen getrieben. Die Regierung mußte reagieren, und mehr als alles andere war es vielleicht dies, was den Menschen die Bedeutung von kollektivem Protest vor Augen führte. Die Bewegung gegen die Korruption zerfiel infolge von internen Zwistigkeiten zwischen ihren führenden Vertretern, aber der Zorn der Bevölkerung ließ sich nicht so leicht beschwichtigen. Das war vielleicht einer der Gründe.
Und es gab noch weitere Ursachen. Genau wie andere indische Städte erlebt auch Delhi sowohl die positiven als auch die negativen Auswirkungen des Prozesses, den man als „Globalisierung“ bezeichnet. In Delhi und seinen Vororten beschäftigen zahlreiche IT-Unternehmen, die für Fluglinien, Krankenhäuser, Hotels und andere Kunden in aller Welt Dienstleistungen erbringen, junge Belegschaften, die fast zur Hälfte aus Frauen bestehen. Der Ausbau von Einkaufszentren hat einen weiteren Bedarf hervorgebracht – man braucht Sicherheitskräfte. Solche Zentren sind öffentliche Räume, und wer sie betritt, muß kontrolliert werden in diesen Zeiten unvermuteter Bombenanschläge und Terrorangriffe. Und für die Kontrolle von Frauen braucht man weibliche Angestellte – Leibesvisitationen und das Abtasten von Kundinnen sind Aufgaben, für die Männer natürlich nicht in Frage kommen. Dann sind da die vielen verschiedenen neuen Läden, Restaurants und Bars, die sich etabliert haben. Hier sind jetzt Frauen als Verkäuferinnen, als Empfangsdamen beschäftigt – Tätigkeiten, über die das konservative Indien noch vor weniger als zwanzig Jahren die Stirn runzelte: Eine Frau als Barkeeperin wäre undenkbar gewesen, aber heute ist das nichts Ungewöhnliches. Und dann gibt es Taxifahrerinnen, Tankstellenwärterinnen, Poli-zistinnen und so weiter. Mit anderen Worten: Frauen genießen heutzutage zumindest in indischen Städten eine viel größere öffentliche Sichtbarkeit als früher. Dieser Wandel hat zahlreichen Städterinnen Chancen beschert, die sie einst nicht hatten. Doch für viele Männer ist die Tatsache, daß Frauen auf den Arbeitsmarkt drängen, selbst wenn die absoluten Zahlen nicht hoch sind, eine Bedrohung, denn sie nagen an einem Kuchen, der jetzt schon schmal ist. Wenn sich junge Leute vor zwanzig Jahren treffen wollten, standen ihnen nur sehr wenige Orte zur Verfügung. Heute gibt es das Einkaufszentrum, das Café, die Teestube, das Multiplex-Kino oder das Straßenrestaurant.
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In den letzten Jahren waren es Frauen, die bei zahlreichen radikalen Veränderungen in Indien an vorderster Front gestanden haben. Das bedeutsamste Regierungsprogramm, das in neuerer Zeit eingeführt wurde, der Right to Information Act (der den Menschen, ob reich, ob arm, das Recht gibt, vom Staat Informationen über seine Tätigkeit zu verlangen, und der daher ein wertvolles Werkzeug ist, um Korruption anzugreifen), war das Ergebnis von Kampagnen unter der Führung von Aruna Roy, einer Frau. In vorderster Front einer Kampagne gegen die Errichtung des Narmada-Staudamms steht eine Frau, Medha Patkar. Führend in der Bewegung gegen die Errichtung eines Atomkraftwerks in Koodankulam in Südindien ist eine Gruppe von Frauen. Und im Nordosten Indiens befindet sich Irom Sharmila, eine junge Frau, mittlerweile seit fast zwölf Jahren im Hungerstreik, weil sie die Abschaffung eines drakonischen Gesetzes, des Armed Forces (Special Powers) Act, fordert, das dem Militär das Recht einräumt, nach Belieben zu durchsuchen, zu beschlagnahmen und zu töten, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Würde die junge Frau, die nach der Gruppenvergewaltigung vom 16. Dezember so tragisch ums Leben gekommen ist, noch leben, dann hätte sie dies gesehen: daß Indien sich wandelt und daß im Mittelpunkt des Wandels die indischen Frauen stehen.