LI 89, Sommer 2010
Der Geist des Futurismus
Gefährliche Liebschaften bei den künstlerischen Avantgarden EuropasElementardaten
Textauszug
Gibt es eine Philosophie des Futurismus? Lassen sich die vielfältigen literarischen, kulturellen und philosophischen Einflüsse, welche die Manifeste und Kunstwerke seiner Entstehungszeit und ersten Entwicklungsphase in aller Klarheit aufweisen, auf eine Einheit zurückführen? Oder kann man beim Futurismus nur von einer vagen Weltanschauung sprechen? Wenn man aber von einer „Philosophie“ sprechen kann, durch welche Begriffe unterscheidet sich diese dann von den Philosophien, die von anderen historischen Avantgarden geprägt sind? Diese Frage impliziert unmittelbar eine weitere: Worin bestehen die Gründe für die futuristische Bewegung und was macht ihr Auftauchen im Gesamtbild der zeitgenössischen Kunst notwendig – Kunst philosophisch verstanden, als spezifische Form der Manifestation des Geistes und des Schicksals einer Epoche?
Es führt nicht sehr weit, die „buchstäblich“ verifizierbaren Einflüsse, und seien sie noch so wichtig, zu untersuchen. Die Bezugnahme auf zeitgenössische Strömungen der Philosophie ist in den Texten des Futurismus häufig anzutreffen, nicht nur in denen von Marinetti. Hier stechen besonders die Figuren von Nietzsche und Bergson hervor. Die Verbreitung von Nietzsches Schriften erfolgt in Italien jedoch zur Gänze vermittelt über Frankreich und hat in D’Annunzio ihren Hauptverantwortlichen. Marinetti nennt Nietzsche einen „großen Philosophen“ und zitiert ihn (ganz und gar nicht zu Unrecht) neben Spinoza, Pascal, Machiavelli, Vico, Kant und Marx. Mit der Betitelung als „Philosoph“ zog Marinetti aber auch die Grenzen: Er sei noch ein „Professor“, seine „Philosophie des Hammers“ sei eine bloß verbale Kriegserklärung an die überkommenen Werte, sein Übermensch noch ein leeres Seinsollen, eine hohle Vorgabe. Man könnte in gewisser Weise sagen, daß Marinetti den im Grunde philosophisch-systematischen Anspruch in Nietzsches Werk erkennt und eben diesen ablehnt. Kein „Siegel“ des Seins kann dem Werden und Zukünftigen aufgeprägt werden; keine Form und kein Wert können sich dem élan vital aufdrängen, als entsprängen sie einer Dimension, die diesen transzendiert. Es ist das Leben selbst, das sie ständig erschafft und auflöst. Eine „ewige Wiederkehr des Gleichen“ kann also nicht definiert werden. Insofern stellt Bergson für den Futurismus den Gegensatz zu Nietzsche dar. Er ist es, der gegen Nietzsche gelehrt hat, daß „das Leben die Erkenntnis überschreitet“ (la vie déborde l’intelligence). Es ist unmöglich, sein Schaffen-Zerstören auf Ordnungen zu beziehen, die es transzendieren, oder es gemäß den Kriterien der „Logik“ zu „prophezeien“. Der Mensch kann die Zukunft nur erschaffen, indem er „das ganze Leben lebt“.
Marinetti hat einen guten Spürsinn für Nietzsches ununterdrückbare „Sehnsucht nach dem klassischen Ideal“, und sei es auch nur seine Sehnsucht nach einer tragisch nachgelebten Klassizität. Aber es ist ja gerade die tragische Dimension, die der Futurismus hinter sich lassen will! „Nietzsche ist ein Traditionalist, der auf den Gipfeln der thessalischen Berge herumspaziert, unglücklicherweise mit von langen griechischen Texten an der Bewegung gehinderten Füßen“; sein Übermensch ist eine Leiche, konstruiert aus den Ruinen Athens. Gegen diesen Nietzsche agiert im Futurismus das Denken von Bergson, in dem die Intuition, mit der realen Dauer in eins fallend, sich programmatisch der tragischen Weisheit entgegenstellt, die ihren Grund im eigenen Pathos hat, im vom Widerstreit zwischen den verschiedenen die Szene bewohnenden „Zeiten“ und „Charakteren“ verursachten Leiden.
Der Bezug zu Bergson, insbesondere seinem Werk Zeit und Freiheit, ist sicherlich grundlegend für die futuristische „Philosophie“. In mancher Hinsicht vielleicht noch grundlegender ist die Verbindung zu Boutroux, dessen Werk in Italien von Papini in den ersten Jahrgängen der Zeitschrift La Voce bekannt gemacht wird. Papini übersetzt dessen Schrift La nature et l’esprit, nachdem er dem Philosophen in Paris begegnet ist. Boutroux vertritt in seinem Werk noch radikaler als Bergson die Irreduzibilität des Geistes auf einen naturalistischen Determinismus, auf die „Trägheit der Materie“. Tonfall und Motive davon findet man im saggismo („Essayismus“) von Papini und Prezzolini wieder sowie in den Manifesten und Dokumenten des frühen Futurismus. Ebenfalls in Frankreich finden wir den Autor, der mehr als alle anderen den „politischen“ Futurismus beeinflußt hat: Sorel – und das, obwohl seine Schrift Über die Gewalt in Italien durch Benedetto Croce bekannt geworden ist. Muß man daraus schließen, daß insbesondere bei Marinetti die futuristische „Philosophie“ gänzlich unter den Brücken der Seine hindurchgeflossen ist?
Bergsons Denken war auch grundlegend für die Interpretation der futuristischen Malerei. Die darin ausgedrückte Idee vom „gleichzeitigen Ausdruck der Vielfältigkeit der Welt“ erklärt sich aus der Eigenart der Bergsonschen „realen Dauer“, die kein allumfassendes kontinuierliches Fließen darstellt, sondern im Gegenteil die Gesamtheit der nie geometrisch in Räume einteilbaren Beziehungen, die Gesamtheit der unterschiedlichen „Fäden“ des Kosmos, deren jeder mit eigener, individueller Temporalität ausgestattet ist. Bergsons Einfluß ist vor allem bei Umberto Boccioni augenfällig, in seiner Auseinandersetzung mit dem Kubismus: der „kartesianischen“ Analyse des Objekts, die die Souveränität der Formen des Verstandes bekräftigt, setzt er den Ausdruck der Energie entgegen, die jede abstrakte Unterscheidung von Subjekt und Objekt sprengt. Und Ardengo Soffici, der sich nur scheinbar dem Kubismus annähert, beschäftigt sich unter diesem Blickwinkel mit dem epochemachenden Werk von Cézanne.
Der Unterschied zwischen Futurismus und Kubismus kann zu den wesentlichen Widersprüchen innerhalb des europäischen Denkens zu Beginn des 20. Jahrhunderts gezählt werden und macht eine allgemeine philosophische Problematik zu diesem Zeitpunkt sichtbar. Die beiden Bewegungen stellen zwei gänzlich unterschiedliche und in gewisser Weise komplementäre Wege dar, das impressionistische esse est percipi zu überschreiten. Auf der einen Seite die „Rückkehr zum Ding“ durch die Vermittlung Cézannes, aber auf der Grundlage einer „Rekonstruktion“ des transzendentalen Ego. Die Abkehr von jedwedem Psychologismus, dafür eine Orientierung an der Definition eines neuen, geometrisch aufgefaßten Raumes. Auf der anderen Seite das Überdenhaufenwerfen jeder möglichen Verräumlichung der Dynamik von Intuition bzw. Dauer. Keine wie immer geartete transzendentale Einheit der Apperzeption und keine Struktur der Intentionalität „retten“ vor der „schwindelerregenden Bewegung des Lebens“ (Boccioni). Dem „Intellektualismus“, dem man in den strengsten Positionen des Kubismus begegnet (art conceptuel nannte sie Apollinaire) und der „das Gefühl umbringt“, setzt Boccioni eine Art „neue Barbarei“ entgegen. Aber es ist eine „Barbarei“, die nach Reflexion strebt und sie „entwickelt“ – „progressiv“ ist, könnte man sagen, und nicht reaktionär. Giambattista Vico war einer von Marinettis bevorzugten Autoren – und die „Barbarei“, von der Boccioni spricht, ist eng verwandt mit der „Barbarei der Reflexion“, die in Vicos Scienza Nuova die zivilisierte Epoche der Vernunft beschließt.
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