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Cover Lettre International 85, Daniel Richter
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LI 85, Sommer 2009

Vorahnung

Ein Autor durchlebt persönliche Turbulenzen und öffentliches Chaos

AM morgen des 24. März 2001, einem Samstag, habe ich einen Flug von Turin nach London genommen. Das Wetter am Boden war gut.

Das Flugzeug war eine MD-80, eine Maschine, die ich noch nie mochte, wegen meiner leichten, latenten Klaustrophobie, glaube ich. Sie ist schmal und lang, das Innere eng, vor allem bei dem Modell mit den größeren Gepäckfächern. Ich hatte noch einen anderen Grund, sie nicht zu mögen, doch er war mir in diesem Moment nicht bewußt.

Die Fluggesellschaft war eine kleinere Linie, mit der ich noch nie geflogen war und die ich aufgrund einer Reihe von chronogeographischen Assoziationen (Meridiana, mezzogiorno, mediterran) mit der Itavia jenes Flugs verband, der bei Ustica ins Meer abgestürzt war. Und zur Bestätigung meiner Ängste kam das Flugzeug aus Catania, sollte in Turin zwischenlanden und dann weiterfliegen. Es war verspätet. Ich hatte keinerlei Vorstellung, wieviel Zeit bei einem solchen Flug und einer solchen Maschine für eine Zwischenlandung mindestens benötigt wurde, doch langsam fragte ich mich, ob man versuchen würde, die Verspätung aufzuholen, indem man den Zwischenstopp fahrlässig abkürzte.

Beim Einsteigen war ich nervös. Das Flugzeug war halbleer, eigentlich fast ganz leer. Wenn wir abstürzten, würde es weniger Opfer geben. Weniger Aufsehen, weniger Betroffenheit. Ich saß in der ersten Reihe der Economy-Class, und kaum hatten wir abgehoben, zog die Stewardeß mir die grauen Vorhänge vor der Nase zu, die uns von der Business-Class trennten. Vielleicht machen sie das, um zu verhindern, daß die Economy-Passagiere etwas von dem üppigen Mahl der Business-Passagiere mitbekommen, keine Ahnung. Ich weiß nur, daß die Geste in diesem Moment meine Klaustrophobie nur verstärkt hat, so daß sie etwas weniger latent wurde.

Es gab eine Vibration, an die ich mich von keinem früheren Flug mit diesem Flugzeugtyp her erinnerte. Nervös schob ich den Vorhang beiseite und spähte in Richtung Cockpit, um zu sehen, ob es dort besorgte Bewegungen der Flugbegleiter gab. Solange die Stewardessen ruhig sind, brauche ich keine Angst zu haben. Wenn sie aber nur so tun? Eine von ihnen hatte mich gesehen und kam zu mir, um zu fragen, ob ich etwas bräuchte. Ich sagte, es sei alles in Ordnung, und sie lächelte mir zu, denn es war alles in Ordnung: Schönes Wetter auf der gesamten Strecke, wir hatten die Verspätung aufgeholt, und in fünf Minuten würde ein Imbiß serviert werden.

Da ich nicht nach vorne schauen konnte, drehte ich mich um und betrachtete das knappe Dutzend Passagiere hinter mir. Ich erinnere mich an zwei korpulente Männer, sie sprachen sehr laut im Dialekt. Der jüngere empfand einen starken Kopfschmerz über den Augenbrauen und hatte bereits einmal nach der Stewardeß gerufen, um sie um Hilfe zu bitten. Die Stewardeß hatte ihm geraten, sich kräftig die Nase zu schneuzen, doch der Schmerz legte sich nicht. Er war verwirrt, blickte sich um, schien erstaunt, weil keiner Anstalten machte, ihm zu Hilfe zu kommen, als ob sein Schmerz auch für die anderen unerträglich sein müßte, eine Zumutung für die gesamte Menschheit. Er sprach mit einem lächerlichen Piemonteser Akzent, und ich glaube, sogar die Piloten konnten ihn hören. Ich leide an chronischer Sinusitis, seit jeher bin ich es gewohnt, beim Starten und Landen den Druck auszugleichen. Ich riet ihm, sich mit Zeigefinger und Daumen die Nase zuzuhalten und Luft durch die Nase zu pressen. Er schaffte es nicht. Die Stewardeß warf mir nervöse Blicke zu, als wäre es meine Schuld.

Ich erinnere mich gut an den korpulenten Passagier. Er hatte gekräuseltes Haar, das sich auf seiner Stirn zu einer Art Banane formte, kleine, dicht beieinanderstehende Augen, Nase und Mund waren fleischig, er trug ein graues oder hellblaues oder grünliches Sweatshirt und eine braune Jacke aus künstlich gealtertem Leder im Antik-Look. Er saß auf dem mittleren Platz der Sitzreihe, sein Reisegefährte am Fenster, er hätte sich auf den Platz am Gang umsetzen können, beide waren so groß und kräftig und dick, daß sie den Raum vollständig ausfüllten, sie saßen beengt. Es konnten Facharbeiter auf Geschäftsreise sein oder auf Besuch von Verwandten, die ins Ausland gegangen waren.

Während ich den Passagier mit der Sinusitis zwei Reihen hinter mir betrachtete, dachte ich, daß die beiden sicher Altersgenossen von mir waren. Es war eine Zeit, in der mich Altersgenossen beunruhigten. Ein Bekannter in meinem Alter war gerade an einem Schlaganfall gestorben (seinerzeit hatte ich geglaubt, es sei ein Infarkt gewesen), er war Verleger und eines Abends in London zusammengebrochen. Ich muß dazu sagen, daß es für ihn nicht ungewöhnlich war, in London zu sein, er fuhr oft für längere Zeit hin, er besaß dort eine Wohnung. Ich fahre höchstens für ein paar Wochen im Jahr hin. Aber noch ein anderer italienischer Verleger (kein Altersgenosse) war während eines kurzen Aufenthalts in London gestorben. Ich hatte Anlaß zur Sorge, obwohl ich kein richtiger Verleger bin, ich bin nur Lektor und überdies ein Teilzeitlektor.

Die andere Hälfte meiner Teilzeitarbeit verbringe ich mit Schreiben. Im Mai des Jahres davor war ein Buch von mir herausgekommen, und es war nicht gut gegangen, es war überhaupt nicht gut gegangen. Das Buch gefiel mir nicht mehr, es war schlecht, unbedeutend, halb Reisebericht, halb Roman, ein Teilzeitroman. Ich bereute, daß ich es veröffentlicht hatte, aber um die Wahrheit zu sagen: Ich bereue bei allen meinen Büchern, daß ich sie veröffentlicht habe. Es hatte sehr wenige Rezensionen bekommen, nach einem Monat war es aus den Buchhandlungen verschwunden. Der Verleger hatte (nach Ansicht meines Agenten) den Fehler begangen, es auf einem Papier drucken zu lassen, das die Konsistenz und Rauheit von Toilettenpapier (der gröbsten Sorte) hatte. Es handelte von einer Reise nach Indien und war so schlecht hergestellt, daß es wie ein indisches Buch wirkte, aber es hatte nicht dessen außergewöhnlichen Duft, nicht dessen Zauber. Es war ein Teilzeitindienbuch, ein Betrug auch durch die schäbige Machart.

Mein Altersgenosse, der Facharbeiter, bereitete mir Unbehagen, nicht nur weil er Dialekt sprach, nicht nur weil er laut sprach, sondern vor allem weil er, obwohl er mein Altersgenosse war, zehn Jahre älter aussah als ich. Oder besser: Er zeigte sein Alter von wahrscheinlich vierzig Jahren; ich war neununddreißig und sah immer noch aus wie dreißig. Früher oder später, sagen Freunde und Bekannte, wirst du zusammenklappen und dein Alter zeigen. Vielleicht würde das nach den Vierzigern stattfinden, in wenigen Monaten würde ich das versäumte Altern nachholen. Vorerst mache ich mit dem Betrügen weiter, und insbesondere Altersgenossen vergessen nie, mich darauf hinzuweisen. Als würde ich es absichtlich tun, als wäre es meine Schuld.

Vielleicht ist es das. Vielleicht gelingt es mir mit übermenschlicher Willensanstrengung, nicht zu altern, vielleicht will ich nicht aufhören, als junger Mann zu gelten, um mich nicht diesen regelmäßigen Bilanzen, diesen regelmäßigen Tests, diesen regelmäßigen Check-ups zu unterziehen. Ein Teilzeitlektor sein, der sich nicht entschließt, Vollzeitverantwortung zu übernehmen, ein Teilzeitschriftsteller sein, der seine wichtigsten Bücher noch nicht geschrieben hat (um einen Euphemismus zu gebrauchen). Ein Betrüger sein, wenn ich Lektor bin (denn in Wirklichkeit bin ich Schriftsteller), ein Betrüger sein, wenn ich Schriftsteller bin. (Denn in Wirklichkeit bin ich Lektor.)

Nach einer Stunde Flug, zehntausend Meter über Frankreich, ist die Vibration plötzlich stärker geworden, um in ein kontinuierliches Trommeln überzugehen. Es dauerte nicht länger als zwei Minuten. Als es aufhörte, schienen die Motoren sich abgeschaltet zu haben, so still war das Flugzeug geworden. Ich erschrak über mein Erschrecken, so etwas hatte ich noch nie erlebt. Der Flugkapitän fühlte sich verpflichtet, uns zu beruhigen, er sagte, es habe sich um eine leichte Turbulenz gehandelt, und wenn ich zurückdenke, glaube ich, daß er recht hatte, sie war wirklich leicht gewesen, aber mir war sie schreckenerregend erschienen. In Wirklichkeit war meine Angst auch vorher dagewesen, doch bis zu dem Vorfall mit der leichten Turbulenz hatte ich versucht, sie zu leugnen. Danach mußte ich zugeben, daß es sie gab und nicht vergehen wollte. Schuld mußte das Flugzeug sein. Es gefiel mir nicht, es war für Flüge von über einer Stunde Dauer nicht geeignet, ich bezweifelte sogar, daß seine Treibstofftanks groß genug waren.
Ich litt noch eine weitere Stunde. Ich mißtraute den Piloten, ich mißtraute den Stewardessen, ich mißtraute der Fluggesellschaft – wie viele Unfälle würde die Deregulierung des Marktes noch verursachen? Dieses Flugzeug ist schrottreif, dachte ich. Sogar die zerkratzten Bolzen, mit denen mein Sitz am Boden befestigt war, beunruhigten mich.

Als wir heil und gesund in Heathrow landeten, verspürte ich die Euphorie des Überlebenden.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.