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Cover Lettre International 93, Jan Fabre
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Inhaltsverzeichnis

LI 93, Sommer 2011

Freuds Salto

Turbulenz als Mechanismus des Eros oder die Lehren der Katastrophe

Das YouTube-Bild des Strudels, der sich am Ort des jüngsten unterseeischen Bebens vor der japanischen Küste gebildet hat, hat sich wie ein Virus verbreitet. Ich vermute, daß seine Popularität sich nicht nur der ökologischen Information verdankt hat, die es transportierte: Das Bild hatte eine unheimliche, ja hypnotische, ästhetische Anziehungskraft. Im Unterschied zu den Trümmern nach Tornados oder den Erdrutschen durch sintflutartige Regenfälle hat die große Ozeanspirale die Ambiguität von Kreativität zum Ausdruck gebracht, die grausame Verflechtung konträrer Tendenzen, der das heraklitsche Diktum Rechnung trägt: „Verbindungen sind: Ganzes und Nichtganzes, Eintracht, Zwietracht, Einklang, Mißklang und aus allem eins und aus einem alles.“ Wenn wir fragen, wie es zu diesem Phasenwechsel kommt, bei dem das eine sich in die vielen teilt und die vielen sich im einen auflösen, dann scheint ein Wirbelmechanismus unentbehrlich zu sein. Andernfalls wäre schwer einzusehen, wie zentripetale und zentrifugale Kräfte stabile Felder oder „Dinge“ produzieren könnten, die Harmonie zur Schau stellen. Die Entstehung der wirbelnden Schaumgalaxie aus der Turbulenz der tektonischen Verschiebung hat den Malstrom ins Leben gerufen, jene archetypische Form, in der sich Zerstörung und Kreativität verbinden. Die Gelassenheit seiner langsam wirbelnden Masse war so grausam wie das Gesicht der Notwendigkeit, so generös wie die Pirouette einer titanenhaften Ballerina. Sie kombinierte die Hieroglyphe der ewigen Selbsterneuerung, die mit Ouroboros verbunden ist, und die Figur des gnadenlosen Zerriebenwerdens, die von den sich langsam drehenden Mühlsteinen des Malstrommythos beschrieben wird. Da blühte im Schlund der Katastrophe eine grazile Wirbelblüte, eine Seelilie, die sich allmählich ausbreitete und zerfiel: Ihr majestätisches Fehlen von Eile erweckte die Vorstellung einer Bereitschaft, als würden Formen der Turbulenz krakenartig in der Tiefe liegen und darauf warten, daß eine Katastrophe sie zum Ausschlüpfen bringt. Es ist, als wäre die See auf eine plötzliche Veränderung vorbereitet gewesen und hätte die Formen ausgebrütet, um sie zu gestalten und zu transformieren.

(…)

Plötzlich löste sich der Druck der pazifischen Platte, die sich an der Honshuplatte rieb. Ein Nebenprodukt der plötzlichen Subduktion war das Erblühen einer weißen, sich langsam entfaltenden Rose an der Oberfläche des Wassers. Diese Figur geisterte in der kollektiven Imagination in den Tagen danach herum, weil sie vage als ein Emblem der Lesbarkeit der Natur erkannt wurde. Sie repräsentierte nicht Turbulenz, wenn Turbulenz von den eleganten, im Dauerzustand befindlichen Figuren des fließenden Wassers repräsentiert wird, die Theodor Schwenks Klassiker Das sensible Chaos
illustrieren. Sie ließ uns nicht der Tatsache bewußt werden, daß Turbulenz nicht „virtuell stabil innerhalb des Fließens“ ist, sondern manchmal das Zeichen der Notwendigkeit der Natur – katastrophisch, annullierend, sinnlos. Nein, sie zeigte uns etwas über das Bewußtsein, über die profunde Ähnlichkeit von Natur und menschlicher Natur, über das Unbewußte der Umwelt und das menschliche Bewußtsein. „Was außer mir ist, ist gerade in mir, ist mein – und umgekehrt“, behauptete Novalis, die Anthroposophen, Freud und Serres vorwegnehmend – in seinem Bestreben, eine kausale Wiederverbindung zwischen externen und internen, menschlichen und nicht menschlichen Ereignissen zu finden. Rede und Schrift, dachte Novalis, dehnen sich zentrifugal aus, während Aufmerksamkeit, die Fähigkeit, aus ihnen „einen bestimmten Gedankengang“ abzuleiten, eine zentripetale Anziehung auf die Welt ausübt: „Zentripetalkraft – ist das synthetische Bestreben – Centrifugalkraft – das analytische Bestreben des Geistes – Streben nach Einheit – Streben nach Mannichfaltigkeit – durch wechselseitige Bestimmung beyder durch Einander – wird jene höhere Synthesis der Einheit und Mannichfaltigkeit selbst hervorgebracht – durch die Eins in Allem und Alles in Einem ist.“

Der japanische Malstrom war die Schrift der Natur, die originale Typographie von Energie, die sich selbst in Information umwandelte. Wenn man an Voegelins Idee der Historiogenesis glaubt, markiert die Kalligraphie der Turbulenz den Ursprung der Schrift. Sie ist die archetypische Arabeske, von der alle Schreibschriften abstammen. Sie ist das Formlose,
aus dem die Information geboren wird. Zur gleichen Zeit markiert der Malstrom auch die Stelle, an der Bedeutung verschwindet und ins Nichts verschluckt wird. In der amerikanischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts bezeichnet der Malstrom oder Strudel die Grenzen dessen, was bezeugt und daher zugeordnet werden kann. Wenn der leckgeschlagene „Pequod“ sich im finalen Kampf mit Moby Dick zu drehen beginnt, bezeichnet das das Ende der Erzählung. Indem er zuletzt dem Willen des Wals unterliegt – denn Melville macht an anderer Stelle deutlich, daß „Wal“ (whale) und „Strudel“ (whirl) etymologisch verbunden sind – verschwindet Ahab jenseits dessen, was gesehen, imaginiert – und erzählt werden kann. Vielleicht hat Ahab seine Wunscherfüllung: Indem er den Wal haßt, liebt er auch den Tod, den jener repräsentiert. Es ist dasselbe Szenario wie in Edgar Allan Poes Kurzgeschichte Ein Sturz in den Malstrom, mit dem Unterschied, daß Poes „alter Mann“ willig das Paradox akzeptiert, daß Wissen vom Unbewußten der Umgebung niemals zu Bewußtsein gebracht werden kann: „Nach einer kleinen Weile bemächtigte sich meiner die lebhafteste Neugierde, den Strudel selbst zu schauen. Ich verspürte geradezu den Wunsch, seine Tiefen zu erforschen, mochte es mich auch das Opfer kosten, das ich zu bringen im Begriffe stand; und mein hauptsächlicher Kummer war nur, daß es mir nie gegeben sein sollte, meinen alten Gefährten an der Küste von den Geheimnissen zu erzählen, welche ich schauen würde."

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.