LI 69, Sommer 2005
Literatur als eine Welt
Strukturen von Anerkennung und Macht auf der internationalen BühneElementardaten
Textauszug
(…) Also: eine andere Welt, deren Teilungen und Grenzen relativ unabhängig sind von politischen und linguistischen Grenzen. (…) Nennen wir diesen vermittelnden Raum den „weltliterarischen Raum“. Es ist nicht mehr als ein Werkzeug, das durch konkrete Forschung erprobt werden soll, ein Instrument, das der Logik und Geschichte der Literatur Rechnung tragen könnte, ohne in die Falle der totalen Autonomie zu geraten. Es ist auch ein „hypothetisches Modell“ im Sinne Chomskys – ein Korpus von Aussagen, dessen Ausarbeitung (auch wenn sie gewagt ist) selbst dabei helfen könnte, das Objekt der Beschreibung zu formulieren; das heißt eine in sich kohärente Menge von Propositionen. Die Arbeit mit einem Modell sollte eine gewisse Freiheit vom unmittelbar „Gegebenen“ ermöglichen. Es sollte uns, im Gegenteil, erlauben, jeden Fall neu zu konstruieren und zu zeigen, daß er nicht isoliert besteht, sondern als besondere Ausprägung des Möglichen, als Element einer Gruppe oder Familie, die wir nicht hätten sehen können, wenn wir nicht zuvor ein abstraktes Modell aller Möglichkeiten formuliert hätten.
Dieses konzeptuelle Werkzeug ist nicht „Weltliteratur“ selbst – das heißt ein Korpus von Literatur, das auf Weltmaßstab ausgedehnt wird und dessen Dokumentation und tatsächliche Existenz problematisch bleibt –, sondern ein Raum: eine Menge von verbundenen Positionen, die in relationalen Begriffen gedacht und beschrieben werden müssen. Es stehen nicht die Modalitäten der Analyse von Literatur im Weltmaßstab zur Debatte, sondern die konzeptuellen Mittel, um Literatur als eine Welt zu denken.
In seiner Erzählung „Die Figur im Teppich“ – die sich gegen die Ziele von Interpretation von Literatur wendet – entfaltet Henry James die schöne Metapher vom persischen Teppich. Flüchtig oder aus zu großer Nähe betrachtet, erscheint er als unentzifferbares Gewirr willkürlicher Formen und Farben, aber aus dem rechten Winkel gesehen wird der Teppich plötzlich dem aufmerksamen Betrachter – mit „der einen richtigen Kombination“ von „superber Verworrenheit“ – eine geordnete Menge von Motiven präsentieren, die nur in Relation zueinander verstanden werden können und die nur sichtbar werden, wenn sie in ihrer Gesamtheit wahrgenommen werden, in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit und Interaktion. Nur wenn der Teppich als „Konfiguration“ – um den Begriff Foucaults aus Die Ordnung der Dinge zu verwenden – gesehen wird, die die Figuren und Farben ordnet, können ihre Regularitäten, Variationen und Wiederholungen verstanden werden, sowohl in ihrer Kohärenz wie in ihren inneren Beziehungen. Jede Figur ist nur unter den Bedingungen der Position zu verstehen, die sie im Ganzen und in ihren wechselseitigen Verbindungen mit allen anderen einnimmt.
Die Metapher vom persischen Teppich schließt den hier angebotenen Zugang perfekt ein: den gewöhnlichen Aussichtspunkt auf Literatur zu verschieben, um eine andere Perspektive einzunehmen. Nicht bloß um die globale Kohärenz des Teppichs zu fokussieren, sondern vielmehr um zu zeigen, daß es, ausgehend von einer Erfassung des Gesamtmusters der Zeichnungen, möglich sein wird, jedes Motiv, jede Farbe in ihrem winzigsten Detail zu verstehen, das heißt jeden Text, jeden individuellen Autor, auf der Basis seiner relativen Position innerhalb dieser immensen Struktur. Mein Projekt ist also, die Kohärenz der globalen Struktur wiederherzustellen, in der Texte erscheinen und die nur gesehen werden kann, indem man den Weg einschlägt, der scheinbar am weitesten von ihr weg führt: durch das weite, unsichtbare Territorium, das ich die „Weltrepublik der Literatur“ genannt habe. Doch nur, um zu den Texten selbst zurückzukehren und ein neues Werkzeug zu ihrer Lektüre bereitzustellen.
Dieser literarische Raum hat natürlich nicht in seiner gegenwärtigen Konfiguration zu existieren begonnen. Er entstand als Produkt eines historischen Prozesses, dem gegenüber er mehr und mehr autonom wurde. Ohne ins Detail zu gehen, können wir sagen, daß er in Europa im 16. Jahrhundert erschienen ist, wo Frankreich und England seine ältesten Regionen bildeten. Er konsolidierte und erweiterte sich während des 18. und insbesondere des 19. Jahrhunderts nach Mittel- und Osteuropa, vorangetrieben von der Herderschen Theorie der Nationen. Er dehnte sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts aus, insbesondere durch den bis heute anhaltenden Entkolonialisierungsprozeß: Manifeste, die das Recht auf literarische Existenz oder Unabhängigkeit proklamieren, erscheinen weiterhin, oft verbunden mit nationalen Autonomiebewegungen. Auch wenn der Raum der Literatur mehr oder weniger überall in der Welt konstituiert wurde, ist seine Vereinheitlichung über den ganzen Planeten hinweg noch längst nicht vollendet. (…)