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Cover Lettre International 73, Jannis Kounellis
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LI 73, Sommer 2006

Penghu-Legenden

Geschichten und Schicksale aus der Leprastation Lesheng in Taiwan

Im statistischen Material des Jahres 1977 finden sich in den verschiedenen Bezirken Taiwans als leprakrank registriert insgesamt 4 942 Namen, davon stammen die meisten von der Insel Penghu; nicht zuletzt deshalb wurde Penghu früher, vor der einheitlichen Verbreitung der Chemotherapie, zu den Lepra-Risikogebieten gezählt.

Einige Experten sind der Auffassung, der hohe Verbreitungsgrad der Lepra auf Penghu habe eine Vielzahl von Ursachen: Zum einen sei Penghu eine subtropische Insel, zum anderen habe die frühe Qing-Dynastie auf Penghu viele Küstenbefestigungen errichtet und einen lebhaften Austausch mit Festlandchina etabliert. Als dann Zheng Chenggong/Koxinga auf Taiwan landete, stammte die Mehrzahl der hunderttausend Mann, die er auf Penghu stationierte, aus Guangdong und Fujian – Gebieten also, in denen Aussatz sehr verbreitet war.

Obwohl es in Penghu nicht wenige Leprakranke gab, litten sie dort unter einer außergewöhnlich scharfen Stigmatisierung: Die Insel lag weit vom Festland entfernt, die Gesellschaft war sehr unaufgeklärt, und auch die Tabuisierung der Lepra besaß eine lokale Färbung. Zur energischen Vorsorge und Behandlung führte die Regierung aus dem fernen Taiwan mehrfach Zwangsinternierungen durch. Wer nicht bereit war, der Internierungspolitik Folge zu leisten, für den gab es während der Zeit der japanischen Besatzung eine unbewohnte Insel, das sogenannte Viereckeiland, wohin man Leprakranke eigens verbannte.

1955 dann nahm sich die Taiwanesische Leprahilfe, der ausländische Ärzte und Missionare vorstanden, der besonderen Lebensbedingungen auf Penghu mehr an, richtete eine eigene Ambulanz ein und schickte die auf die Behandlung von Lepra spezialisierte amerikanische Geistliche Mrs. Marjory Bly nach Penghu. Sie ergriff Maßnahmen zur Pflege der Kranken zu Hause, um ihnen so die Möglichkeit einer medizinischen Behandlung und psychischer Betreuung auf der Insel zu geben.

Altersbedingt gibt es heute im 1930 in Taibei von den Japanern gegründeten Lesheng-Leprahaus nicht mehr viele Augenzeugen aus dieser Zeit der gesellschaftlichen Kälte, und die wenigen können ein Seufzen nicht unterdrücken, wenn sie auf die Vergangenheit zu sprechen kommen.

Ein alter Soldat erinnert sich, wie das Lesheng 1949 eigens einen Lepraspezialisten und eine Krankenschwester nach Penghu schickte, wie die beiden dort alle Dörfer besuchten, wie sie mit Sampans auch auf die entlegensten Inseln fuhren, um die Kranken zu untersuchen und gleichzeitig ihre Zwangsinternierung zu betreiben. Bei dieser Gelegenheit wurden zehn Kranke auf einmal nach Magong geschickt, doch weil man sie nirgends unterbringen konnte, verbrachten sie zunächst eine Nacht in der Leichenkammer des Krankenhauses von Penghu, aus dem am nächsten Tag ganz unerwartet die Hälfte der anderen Kranken in Panik floh. Selbst das Krankenhaus war für die Leprakranken verbotenes Gebiet, so daß man sie wohl oder übel vorübergehend in einem Luftschutzbunker zusammenzog, dessen Eingang man dazu noch mit Brettern und Steinen verbarrikadierte, aus Angst, einer der Leprakranken könne davonlaufen.
Bei dem alten Soldaten selbst war damals die Krankheit gerade erst festgestellt worden. Er wollte nicht in diesem Luftschutzbunker bleiben und wurde auf eigenen Wunsch in die Leichenkammer des Krankenhauses zurückverlegt, wo er einen halben Monat alleine zubrachte, bevor er ins Lesheng überwiesen wurde.

Die heute bereits einundachtzigjährige Ye Sulin kam mit 14 in das Lesheng, sie hatte sich im Alter von zehn Jahren infiziert und sich auf den Gaoliang-Feldern in den Bergen versteckt, um der Internierung durch die Japaner zu entgehen. Die Polizei mobilisierte die Dorfbewohner, die wiederholt vergeblich nach ihr suchten. Das brachte einen der Polizisten derart in Rage, daß er mit dem stumpfen Ende seines Samuraischwertes wild auf ihre Mutter eindrosch, woraufhin Ye Sulin sich stellte – zum einen, weil Freunde und Verwandte sie dazu ermahnten, zum anderen, weil bei ihr die Krankheitssymptome bereits sichtbar wurden.

Es war das Jahr 1937, als sie ins Lesheng kam. Heute wohnt sie in einer Fischerhütte, die dem Sanatorium von einem Dorf der Tingxi-Insel, die zu Penghu gehört, gespendet worden war. Sie ist vom Leben zermürbt. Von Kindesbeinen an gewohnt, mit eigenen Händen den Wald urbar zu machen und Gemüse anzupflanzen, ist sie heute halbblind, hat weder Hände noch Füße und keine Erwartungen mehr an das Leben. Sie hegt nur noch die eine Sorge, daß die alten Gebäude des Lesheng mit ihrem Baumbestand einem modernen Behandlungszentrum in einem Hochhaus Platz machen müssen. Für alte Leute, sagt sie, sind Hochhäuser ganz schön unbequem.

Eine weitere standhafte Frau aus Penghu heißt A Fen, bei ihr wurden die Symptome der Krankheit festgestellt, als sie acht Jahre alt war. Doch erst im Alter von 16 brachte ihr Vater sie zur Behandlung ins Lesheng, in das sie zwei Jahre später offiziell einzog und das seither ihr Zuhause ist. Sie erzählt, daß es in ihrem Dorf Sitte war, nach dem Tod eines Leprakranken eine Woche lang nicht zu kochen; wer kochen wollte, mußte auf die andere Seite des Berges, um so zu vermeiden, daß die Bakterien aus dem Pesthauch der Krankheit den Menschen in das Essen regneten. Sie selbst hat noch Reis und Gemüse auf einem Tablett geschultert, auf der anderen Seite des Berges gekocht und das fertige Essen wieder zurückgetragen.

A Fen wurden im Alter von 21 Jahren, also in der Blüte ihres Lebens, beide Beine unterhalb der Oberschenkel amputiert. Sie heiratete im Lesheng, doch um der damaligen Politik der Geburtenkontrolle zu entsprechen, ließ sie sich freiwillig sterilisieren. Sie lebt nun seit einem halben Jahrhundert im Lesheng, sie und ihr Mann halten sich gegenseitig aufrecht, und wenn die Sprache auf Kinder kommt, sagt sie nur gleichgültig, in einer normalen Umgebung hätte sie gewiß die Familienlinie fortgeführt, doch im Lesheng habe sie darauf verzichtet, um ihre Kinder nicht dem gleichen Druck auszusetzen, den sie hatten erdulden müssen.

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