LI 146, Herbst 2024
Chaos und Skizze
Artistische Körpergemenge, zitternd vor Achtsamkeit, Verlangen und TodElementardaten
Genre: Biographie, Bericht / Report
Übersetzung: Aus dem Französischen von Leopold von Verschuer
Textauszug: 3.133 von 15.133 Zeichen
Textauszug
Die Tänzer tanzen, wie sie Liebe machen, wie sie beten, essen, schlafen, denken, wie sie schreiben. Es gibt so viele Bewegungen, Bewegungen an sich … In ihnen atmet die Welt, zusammengekauert, das Innere mit so vielen freien – oder gefesselten – Figuren bevölkernd. Der Tanz dient mir als Wegzehrung für die Ewigkeit: In dem Ereignis des Lebens ist er immer noch das, was ich am liebsten tun/sein wollte. Meine Eltern hatten sich für die Politik, das Lehramt, die Gewerkschaft und die Kulturarbeit entschieden. Mein Bruder entschied sich für die Justiz. Kunst und Tanz haben sich meiner bemächtigt, und so albern es ist, aber heute, hier und jetzt, denke ich lieber an ein nächstes, völlig stummes und nacktes Solo, einen vollkommen stummen Tanz, lieber als an ALLES andere. Der Tanz dient mir zu ALLEM.
Tanzen ist das einzige, das mich zur Zeit, in Schüben, überfällt. Ich bin allenfalls noch in der Lage, Stimmungen für Gesten, für tänzerische Momente auf Papier niedergelegt zu sammeln.
Man erkundet zu mehreren, oder auch gänzlich allein, Winkel voller Staub, ja sogar Schmutz. An diesen wenig gängigen Orten stößt man auf entsorgte Bewegungen, Abfälle, die niemand haben will. Es gibt Gesten, die nicht rüberkommen, Ruinen von Empfindungen, verhinderte Bewegungen … Es ist Material wie Gold.
Ich gerate oft an Unmöglichkeiten. Was auf den ersten Blick kompliziert, unspektakulär, nicht selbstverständlich erscheint: Eben das ist es, was mich reizt. Wenn man auf seiten der unmöglichen Dinge sucht, tun sich die möglichen auf, für einen selbst und in der Beziehung zu anderen Körpern. Aber wozu sollte man mit dem Kopf gegen unsichtbare Wände anrennen, wenn es im Raum nebenan zu fetter, mitreißender Musik abgehen kann? Auf den Bewegungsautobahnen fühle ich mich etwas hilflos. Auf den ersten Feten, wo man tanzen sollte, hatte ich sehr, sehr viel Angst, riesige Angst, also bin ich unter die Brücke gegangen, und da niemand hinsah, habe ich die Augen geschlossen und nackt getanzt.
Chaos und Skizze
Wenn man mich fragt, ob meine Arbeit einen Stil hat, sind es oft diese beiden Wörter, die mir zuerst einfallen. Seit 50 Jahren „suche“ ich nach dem Tanz, und wenn ich ihn gefunden hätte, säße ich heute nicht hier und schriebe, jeden kleinen Satzteil mit einer Dehnung, einem Atemzug unterbrechend, einer manchmal winzigen Bewegung.
Ich arbeite oft mit Unmöglichkeiten, das heißt mit Ideen und Gesten, die unmöglich umzusetzen sind. Oder sind es Oxymora? Stellen Sie sich vor: ein lasziver, aber felsiger Zustand, eine frenetische, aber schläfrige Geste, ein Körper-Gemenge, das schwankt zwischen kollektiver Siesta, Orgie, Massengrab … ? Ein Gemenge, das zur Fläche (die Erde?!) wird, eine Tänzerin einlädt, es mit tastenden Schritten zu betreten? Ein sich in sich bewegendes Körper-Gemenge, zitternd vor Achtsamkeit, Verlangen und Tod und das sogar vor allem gleichzeitig?
Oxymoron: Versuchen zu improvisieren, dabei aber in die Geschichte eintauchen … sich dem Schlaf hingeben, aber tanzend … Dösen, um dabei jedoch einen hochsensiblen Tanz zu kreieren? Pfeifen, aber um ein Fenster ins Intime zu öffnen und es in alle Winde tragen?
(…)