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Titel Lettre International 97, Minoo Emami
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Inhaltsverzeichnis

LI 97, Sommer 2012

Iranische Morgenröte

Ein Attentat auf den Schah und seine Folgen

Es war noch knapp eine Stunde bis zum Ausgehverbot. Wären die Neonlichter nicht gewesen, läge die ganze Straße bis an ihr dunkles Ende wie in einem Grab. Das schwache Leuchten der hohen Laternen aus Gußeisen, das unter den metallenen Kappen hervorschien, betonte mehr die dichte Dunkelheit, als daß sie den Passanten den Weg wies. Weiter vorn standen ein schwarzer Ford mit geheimnisvollen Insassen und einige Armeejeeps am Straßenrand, alle mit laufendem Motor. Die Fahrer der Jeeps betrachteten die Menschen mit gespieltem  Desinteresse und warteten, daß sie sich zerstreuten. Auf der anderen Seite stand ein Mannschaftswagen mit Soldaten an der Ecke.


Der mit Wolken bedeckte Himmel färbte sich an seinen Enden mit einem schmutzigen Rot und war wie kurz vor dem Regen bedrückend und schwer. Mihan zitterte und wußte, daß es nicht die Kälte war. Iradsch blieb stehen und drückte sie für einen Moment an sich; dann rannten sie wieder los. Die Neonleuchten über den Kinos, Kneipen und dem Theater, die in grellen und aufdringlichen Farben bis in den Morgen brannten, verströmten anstelle von Licht Aufregung und ein Gefühl von Aufschub. In diesem bedrohlichen und beklemmenden Moment bildeten die Schaufenster, die alle in rotes Licht getaucht waren und den Blick auf Filmposter und Bilder von Schauspielern freigaben, die einzige Sensation der Straße. Die Cafés, Photoateliers und Friseure hatten sich alle hinter verriegelten eisernen Rolläden oder Holzlatten versteckt; allein die Schneiderei in einer Mansarde ging hinter hellen Fensterscheiben ihrem Geschäft nach wie in stummem Widerstand in jener dunklen Straße.


Sie erreichten die Lalehzarstraße; das jähe Niesen eines Pferdes. Danach sahen sie den Schatten des Kutschers, der im leblosen Licht der Droschkenlaterne nach vorne gebeugt in die Dunkelheit starrte. Die Droschke stand dort und wartete wie ein Wunder auf einen Passagier.


Jetzt war es nicht mehr weit bis nach Hause, aber Iradsch ergriff Mihans Unterarm und ließ sie einsteigen, während er selbst auf dem Trittbrett der Droschke die Richtung angab. Das lederne Faltdach nahm die beiden in ihren gemütlichen Schutz auf und erzeugte einen kurzfristigen Frieden – doch nur so lange, wie sie brauchten, um das Ausmaß ihrer Furcht auszuloten, sich in ihre ruhelosen Augen zu schauen und sich in den unglaubwürdigsten Tönen gegenseitig zu versichern: „Es wird schon. Es wird schon werden.“


Der Leuchtturm des Kinos Mayak verströmte Licht, das Café Naderi auf der Ferdowsistraße sowie das Café vom Restaurant Continental auf der anderen Seite waren beide geschlossen und ihre Lichter erloschen. Freitag abends war zu solcher Stunde das ausländische Orchester vom Continental sogar bis zu ihnen nach Hause zu hören. Als ob sich der unhörbare Laut des Orchesters nun in den Raumteilchen verborgen hielt, um sich dann zu einer anderen Zeit mit um so größerem Getöse zu entladen. Die Rolläden vom Café Naderi waren bis zur Hälfte heruntergezogen, während unter der Tür Wasser und Dampf entwichen. Die Qawam-as-Saltana-Kreuzung, dann die Kreuzung von Yussuf-Abad und dann … Die Droschke hielt vor dem Eingang der Gasse. Überall war es stockfinster; die Stadt war in Wirklichkeit gestorben. Der Schah hatte nur eine geringfügige Schramme abbekommen.


In der engen Gasse glänzte im schwachen Licht, das unter den Metallschirmen der Lampen von hölzernen Masten herabschien, der Bronzebeschlag des Türschlosses. Iradsch nahm den Schlüssel aus der Tasche, und einige Augenblicke später, als sie die Tür hinter sich schlossen, ergab sich eine Gelegenheit, einander anzusehen in der Dunkelheit des Hauses, in dem sie das Licht noch nicht eingeschaltet hatten. Kein Laut, deshalb gab Mihans Herzklopfen in ihrer Brust ein so deutliches und warnendes Signal. Iradsch nahm sie plötzlich in seine Arme: „Hab keine Angst; ich bin bei dir. Es ist nichts von Belang.“


Das war eine offensichtliche Lüge; es hatte sich nichts geändert. Noch immer das nicht nachlassende Herzklopfen und noch immer die ruhelosen Augen in der Dunkelheit.


„Aber er ist noch einmal mit dem Leben davon gekommen … Ein verdächtiges Attentat, und sie werden sich wie tollwütige Hunde über das Leben der Menschen hermachen.“


Mihan schmiegte sich enger an ihn und entgegnete hoffnungslos: „Sie werden sicherlich alles der Partei anhängen.“


Iradsch schwieg eine Weile und entgegnete in einem Ton, als ob er eine Todesnachricht überbringen würde: „Der Stadtpöbel hat den Parteiklub besetzt. Ich habe sie gesehen, wie sie den Bab Homayun heraufkamen. Karamat war ihr Anführer.“


Mihan löste sich von ihm, strich an der Wand entlang, suchte den Schalter und schaltete das Licht an: „Jetzt?“
Iradschs Blick versetzte sie in Schrecken. „Hattest du dabei deine Finger im Spiel?!“


Iradsch verriet sich, indem er heftig mit dem Kopf schüttelte. Mihan wandte ihr Gesicht ab, ging einen Schritt im Flur voran, stieg die Treppen hinunter, stellte sich neben dem Steinkranz vom Becken auf und drehte sich wieder zum Flur um.


„Bereust du es, nach Hause gekommen zu sein?! … Kommst du nicht?!“


Jetzt ärgerte sie sich eher, als daß sie sich ängstigte. Sie sahen einander eine Weile an. Iradsch kam wie ein schutzloses, unschuldiges Kind die Treppen herab. Mihan ging ihm entgegen und griff ihm unter den Arm.
Der kleine viereckige Hof mutete an jenem Winterabend fremd an, war voller versteckter Ecken und dunkler Winkel; ein Wäschestück, das an der Leine hing und gefroren war; die schwarze Öffnung vom Ausgußrohr des Beckens; die weißen Äste laubloser Bäume; schmutziger Schnee im sichelförmigen Garten; Fensterscheiben, besetzt mit stillen Schatten und dunklem Licht; das Metallschloß der Kellerluken; ein Holzscheit im Becken, dessen eine Hälfte aus dem Eis ragte; und selbst die mit Sackleinen umschlungene Pumpe, die wie ein Gespenst das Becken betrachtete: Alle hatten sie heute abend eine verborgene und angsterfüllte Aura.

(…)

Der Oberst ging in Richtung des Zimmers von General Razmara. Er blieb eine Weile stehen und sagte: „Ja … Und ich muß den General sprechen.“


Und wie immer trat er, ohne anzuklopfen, ins Zimmer und schlug seine Hacken zusammen.


Dieser kleinwüchsige Mann saß erstaunlicherweise immer noch und voller Energie hinter seinem Tisch. Und noch immer arbeitete er; jetzt war er am Schreiben. Ohne den Kopf zu heben, fragte er: „Bist du zurück? Ich sagte doch: Geh und erhole dich für ein paar Stunden.“


„Aber, General, es ist etwas vorgefallen … und Sie müssen mir helfen.“


Erst jetzt hob der General seinen Kopf und heftete den Blick auf seinen Adjutanten. Vor zwei oder drei Stunden, als der Oberst von hier fortging, hatte ihn die Müdigkeit überwältigt, während nun Sorge und sogar der Schrecken, der aus des Adjutanten Augen sprang, seine ganze Lebensenergie beanspruchten, um ihm gegenüber hellwach Haltung zu bewahren.


„Setz dich und sag mir, was vorgefallen ist.“


Und er widmete sich wieder seiner Arbeit.


„Es hat mit meinem Sohn zu tun. Sie sind um Mitternacht in sein Haus eingefallen, um ihn festzunehmen.“


Der General antwortete erstaunlich gefaßt: „Wie seltsam! … Und warum sorgst du dich so sehr?“


Der Oberst hob seine Stimme: „Sorgen? … Es liegt doch auf der Hand, was die Festnahme von Leuten dieser Tage bedeutet.“


Der General schüttelte gelassen seinen Kopf, während er weiterhin am Schreiben war. Der Oberst stand wartend da. Der General führte das Geschriebene zu Ende und hob seinen Kopf.


„Was kann ich jetzt für dich tun?“


Die Stimme des Obersten zitterte: „Befehlen Sie, daß sie von seiner Verfolgung ablassen.“


Der General erhob sich von seinem Stuhl und ging um den Tisch herum: „Oberst, du weißt, daß sie unter dem Kommando des Befehlshabers des Ausnahmezustands stehen.“


„Und Sie können seinen Befehl aufheben.“


Der General schüttelte mit Bedauern seinen Kopf: „Einem Soldaten, der sich auskennt, liegt eine solche Erwartung fern, Oberst.“


Dieser murrte: „Sämtliche Festnahmen haben mit dem Attentat zu tun, General, und das …“


Er schwieg und schüttelte auf rätselhafte Weise seinen Kopf. Der General wiederholte geduldiger als beim vorigen Mal: „Ja, genau so ist es, Oberst – und jetzt möchte ich wirklich einmal wissen, wie gut du deinen Sohn kennst?“


Der Oberst machte eine sinnlose Bewegung mit den Schultern und den Händen. „So sehr, wie jeder Vater seinen Sohn eben kennen kann oder kennen muß.“


Der General durchmaß die Weite des Zimmers, ohne auf seine Antwort zu achten, und kehrte wieder um; dann drehte er sich zu ihm: „Und wie steht es mit Teheran? Wie gut kennst du diese Stadt?“


Er verstand den Sinn der Frage nicht und zog die Augenbrauen hoch: „Ich bin in dieser Stadt zur Welt gekommen, mein Vater und sämtliche meiner Vorfahren ebenfalls.“


Der General schüttelte mitleidig den Kopf: „In der Mitte der Lalehzarstraße, genau gegenüber vom Teheraner Theater, gibt es ein Geschäft für Gravuren; dein Sohn hatte hin und wieder, als er nachmittags von der Fakultät zurückkam, um seine Geliebte oder jene Frau, die er neulich geehelicht hat, nach Hause zu führen, etwas Zeit übrig. Weißt du, wie er diese Zeit verbracht hat?“ Der Oberst schüttelte ungeduldig und verneinend den Kopf. „Er ging zu diesem Geschäft für Gravuren …“, er erhob seine Stimme, „… und der Attentäter, das heißt Nassar Fachr-Arai, arbeitete dort.“ Er schwieg und setzte ein Lächeln auf. „Ein belgischer Browning für nur 300 Tuman. Die Adresse des Verkäufers überließ ihm dein Sohn. Aber das ist nicht die Waffe, mit der auf den Schah geschossen worden ist – aus dem einfachen Grund, weil sie ständig klemmte. Sag deinem Sohn, er soll von nun an die Leute zu zuverlässigeren Schmugglern schicken.“


Dem Obersten klebte die Zunge am Gaumen. Der General ließ nicht locker: „Du weißt, daß die Freunde und Bekannten des Attentäters alle festgenommen wurden. Einer von ihnen gab zu, daß dein Sohn dem Täter empfohlen hat, auf den Kopf seiner Majestät zu schießen, weil dieser unter seinem Anzug eine kugelsichere Weste tragen würde.“


Der Atem stockte dem Oberst in der Brust; er hob beide Pranken: „In diesem Fall werde ich ihn mit meinen eigenen Händen bestrafen.“


Der General betrachtete für einen Augenblick stumm die Hände des Obersten; dann spottete er lächelnd: „Diese Hände zittern ja jetzt schon, Oberst!“


Er ließ sie fallen und sagte mit hängenden Schultern: „Aber wir alle kennen doch die ganze Geschichte. … Etwa nicht?“


Der General trat nach vorne, setzte seinen Finger auf des Obersten Brust und dehnte dabei seine Stimme: „Weißt du … weißt du, Oberst, denn die ganze Geschichte?“


Der Oberst schüttelte mit Gewißheit seinen Kopf. Der General lächelte spöttisch: „Du weißt, daß ich dich für dieses offene Geständnis festnehmen lassen könnte?“


Der Oberst starrte den General verblüfft und ungläubig an; danach löste sich aus der Tiefe seiner Kehle ein unverständlicher Laut. Ihm fehlten die Worte. Er konnte nur stammeln: „General …!“

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.