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Cover LI 141
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Inhaltsverzeichnis

LI 141, Sommer 2023

Die fünf Leben des Wolodymyr Selenskyj

Sowjetische Kindheit

Auf den Klassenphotos steht er immer vorn. Diesmal ist er auf der linken Seite. Damals ist er schon der Kleinste, aber das bringt ihn noch nicht zum Lachen. In diesem Herbst 1988 ist Wolodymyr Selenskyj zehn Jahre alt. Für die Feier zum Jahrestag der Oktoberrevolution stellt die Lehrerin ihre Klasse auf dem Platz der Ewigen Flamme ihrer Stadt Krywyj Rih auf, einer großen Industriestadt im russischsprachigen Südosten der Ukraine, 450 Kilometer von Kiew entfernt. Die Kinder, so sieht es aus, erstarren in ihrer „Pionier-Uniform“.

Der zukünftige Präsident der Ukraine und seine Kameraden haben das rote Halstuch der kommunistischen Jugendorganisation umgebunden. „Man wurde ausgeschimpft, wenn die Uniform zerknittert war, und man war daran interessiert, sie abends zu Hause zu bügeln“, erinnert sich Denys Manzhosov, sein damals unzertrennlicher Freund; er steht auf dem Photo in der ersten Reihe rechts. „Es stimmt, daß wir nicht viel gelächelt haben“, setzt der ehemalige Moderator von Fernsehshows hinzu. „Ein Lächeln auf einem Klassenphoto war für den Homo sovieticus schon beinahe eine Meinungsäußerung.“

Seitdem sich Wolodymyr Selenskyj für eine politische Laufbahn entschieden hat, stellte er sich stets als Mann der unabhängigen Ukraine dar. Er erinnert beinahe nie an seine „sowjetische Kindheit“. Seine ersten Lebensjahre werden vollständig ausgeblendet, als gäbe es dabei ein Tabuthema. Doch dieser Präsident eines belagerten Staates, der seit mehr als einem Jahr die ganze Welt überrascht, weil er dem russischen Angreifer standhält, würde nicht derselbe sein, wenn er nicht in der Sowjetunion aufgewachsen wäre. Er ist 45 Jahre alt – „das gleiche Alter wie Macron“, sagt Selenskyj gern: Sein Leben ist noch kurz, aber es fasziniert, und wenn man seinem Verlauf Schritt für Schritt folgt, ergibt sich ein deutliches Bild dieses standfesten Staatschefs. Denn „Wolodja“ (das ist die Verkleinerungsform für alle Wolodymyrs und alle Wladimirs) kommt aus einer verschwundenen Welt.

Bevor sie feierlich gelobten, „das Vaterland zu lieben und zu ehren“, waren diese Schüler im Alter von sieben bis zehn Jahren „Oktoberkinder“, sie gehörten also zur allerersten Jugendorganisation der Kommunistischen Partei. Mit den „Pionieren“ beginnt das militärische Zeremoniell. Auf dem Photo posieren sie vor dem Ehrendenkmal für die Soldaten, die im Jahr 1944 die riesengroße Bergbaustadt befreit haben. Im Jahre 2023 hat sich dieses Denkmal nicht im geringsten verändert. Ebensowenig wie das dahinter liegende Kino, in dem sich Wolodymyr Selenskyj und seine Jugendgefährten italienische und französische Filme ansahen – amerikanische Produktionen waren ja ausgeschlossen. ‘Angélique, die Marquise der Engel’, mit Michèle Mercier und Robert Hossein. Dazu die großen Erfolge von Pierre Richard“, zählt Denys Manzhosov auf. „‘Wolodja’ schwärmte vor allem für Louis de Funès, einen in der Sowjetunion ungeheuer populären Schauspieler.“ Der Kommissar in Fantômas ist der Lieblingsschauspieler des Präsidenten geblieben, der ihn vollendet nachahmen kann.

 

Straßen mit dunklen Läden

Wolodymyr Selenskyj ist seit dem Kriegsbeginn nicht nach Krywyj Rih zurückgekommen. Die 600 000 Einwohner der Stadt, in der immer noch seine Eltern leben, blieben von der russischen Offensive nicht verschont. Im März 2022 haben Kolonnen von einigen Dutzenden Panzern die Verteidigungsstellungen der Stadt getestet, sich ihr bis auf eine Entfernung von 17 Kilometern genähert und den Vorort Inhulezkyj im Süden bombardiert. Dann, am 14. September, sollten sieben X-22-Marschflugkörper einen Staudamm treffen. (Die Gemeinde liegt an einem Nebenfluß des Dnjepr.) Ihre Angriffe führten zu Überschwemmungen und unterbrachen vorläufig die Wasserversorgung von Hunderttausenden. Hier wie auch anderswo im Land kommt es häufig zu Stromsperren, dann sind die Straßen schwarz und die Läden dunkel. Der Krieg zwingt den Gebäuden, die am Prospekt Metalurhiv liegen (dem „Boulevard der Metallarbeiter“) und längsten Boulevard Europas“, wie es heißt, seine Regeln auf.

Der Konflikt hat aus seinem ersten Jugendort ein Symbol gemacht. Jetzt ist er das maßgebliche Nervenzentrum für die Kriegsanstrengungen. In der Zeit der UdSSR pulsierte das wirtschaftliche Herz bereits in diesem ukrainischen „Ruhrgebiet“ oder „Lothringen“. Dieses Eisenhüttenrevier, aus dem die Hälfte des sowjetischen Eisenerzes kam, „war über die Grenzen hinaus bekannt und wurde in allen Geographiebüchern Frankreichs und Europas angeführt“, betont Jacques Faure, der frühere französische Botschafter in der Ukraine. Der Donbass lieferte Kohle, und Eisen kam aus Krywyj Rih mit seinem kombinierten System von Hochöfen und Gußrohren, seinen roten Sandgruben und den Industrieseen, deren Oberfläche sich an Regentagen orange färbt ... „Eine Szenerie wie auf dem Planeten Mars“, formulierte in diesem Frühjahr treffend Olena Selenska, die First Lady des Landes, die ebenfalls hier aufgewachsen ist und es wie ihr Ehemann ablehnt, die Ukraine zu verlassen.

Kein offizielles Porträt des Staatschefs hängt im Rathaus von Krywyj Rih. Es gibt auch keines in seiner alten Schule, die vorläufig geschlossen ist: Diese Einrichtung gehört zur „Großbaustelle des Präsidenten“, einem Arbeitsprogramm, das 2020 aufgelegt wurde, wie auf den gelben Zäunen steht, die auch das große Fußballstadion umschließen, ein weiteres anachronistisches Relikt aus der Zeit vor der „Invasion“. Im Jahr 2019 hatte Selenskyj nach seiner Wahl die Dinge klargestellt, als er vor den neuen Parlamentsabgeordneten erklärte: „Ich möchte nicht, daß Sie mein Porträt in Ihren Büros aufhängen. 

(...) 

Ein Präsident ist keine Ikone, ein Präsident ist kein Idol, ein Präsident ist kein Porträt. Hängen Sie lieber die Photos Ihrer Kinder auf, und blicken Sie ihnen in die Augen, bevor Sie einen Entschluß fassen.“

Gehen wir also von den Kindheitserinnerungen aus. Von Klassenphotos und anderen Aufnahmen, die man hier und da sorgfältig aufgehoben hat, in dieser Stadt, in der jedes Viertel mit einer Nummer bezeichnet wird. Dasjenige Wolodymyr Selenskyjs war die 95. Seine Schule heißt deshalb „Gymnasium 95“. Alla Schepilko, ihre Direktorin, ist eine gesprächige, begeisterte, lächelnde und mit ihrer sehr sowjetisch wirkenden Wasserwelle ein wenig nostalgische Frau. Sie hat Mühe, auch nur den kleinsten Fehler im Unterrichtswesen der kommunistischen Jahre zu entdecken. Ja, sie erinnert sich an wöchentliche Staatsbürgerkundestunden, die, wie sie erklärt, „zehn Minuten dauerten“. „Das dauerte vielmehr eine Dreiviertelstunde“, korrigiert Denys Manzhosov freundlich. Die Fahnenappelle, die „Seid bereit!“ in strammer Haltung, „kerzengerade stehend“ auf dem Hof am Montagmorgen – Denys Manzhosov hat nichts vergessen. Er beginnt zu trällern: I Lenin takoi molodoi („Und Lenin ist wieder jung“), ein patriotisches Lied, das in den 1970er Jahren wieder beliebt wurde. Dann verstummt er plötzlich. Keine Lust, so etwas zu singen. Seit der „Invasion“ vermeidet er das Russische und lernt Ukrainisch.

 

„Von der Wiege bis zur Bahre“

In der Zeit damals dachte man über all das nicht nach. Wie in Dnipro, dem früheren Dnjepropetrowsk, der regionalen Hauptstadt der Oblast, kamen viele Russen auf Arbeitssuche auch nach Krywyj Rih. Das Ukrainische wurde in den Dörfern gesprochen, aber in den großen Bergbaustädten benutzten es Arbeiter und Ingenieure nicht mehr und sprachen Surzhyk (eine Mischsprache aus Russisch und Ukrainisch) oder Russisch, die Sprache der Fabrik, der Straße, der Kinderkrippe und der Vorschule. „Das kommunistische System dauerte von der Wiege bis zur Bahre“, erinnert sich Denys Manzhosov.

Das Entbindungsheim von Krywyj Rih, in dem Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj am 25. Januar 1978 geboren wurde, liegt gegenüber dem Leichenschauhaus und einem Unternehmen, das sich auf die Herstellung von Plastikblumen und -kränzen für Begräbnisse spezialisiert hat. Oleksandr, der heute fünfundsiebzigjährige Vater des Präsidenten, unterrichtet weiter Computerprogrammierung im Institut für Ökonomie. Kurz bevor Le Monde die Universität besuchte, die keinen Strom hatte und in Dunkel getaucht war, hatte er an einem Januartag im unterirdischen Schutzraum der Fakultät den Vorsitz einer Promotionskommission. „Das älteste Gebäude der Stadt“, erklärt trübselig der vierundvierzigjährige Andrii Shaikan, der jetzige Direktor der Einrichtung, und dann setzt er mit lauterer Stimme hinzu, um das Brummen des Generators zu übertönen: „Das Gebäude wurde von der Gestapo und dann vom NKWD [der politischen Polizei der Partei] genutzt. Vorher hatte man das Institut an der Stelle einer Synagoge und einer jüdischen Schule gebaut ...“

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in der Ukraine in ihren heutigen Grenzen 2,5 Millionen „russischer Juden“, wie man sie nannte. Im Verlauf von drei Jahren sind anderthalb Millionen umgekommen, das heißt ein Viertel der 6 Millionen Toten der Shoah. Obwohl Krywyj Rih zu dem vom Zarenreich am Ende des 18. Jahrhunderts den Juden vorgeschriebenen „Ansiedlungsrayon“ gehörte, gab es schreckliche Zerstörungen. Von der weit zurückreichenden Anwesenheit der Juden bleiben vor allem Ruinen und nicht einmal der kleinste jüdische Friedhof übrig. „Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es neun Synagogen in der Stadt, acht kleine und eine große“, berichtet Rabbiner Ederi Lirone in dem einzigen übrig gebliebenen Gotteshaus, einer geräumigen modernen Synagoge, die 2009 dank der Unterstützung eines nach Monaco emigrierten Ukrainers gebaut wurde. Der Rabbiner sagt, daß zu seiner Gemeinde die Eltern des Präsidenten, Kinder von Überlebenden, gehören.

Während des Großen Vaterländischen Krieges zwischen 1941 und 1945 verdankt Semen, Wolodymyr Selenskyjs Großvater väterlicherseits, seine Rettung nur der Tatsache, daß er zur Roten Armee an die Front ging. Seine drei Brüder hingegen werden mit ihren Familien von den Deutschen während der sogenannten „Shoah durch Gewehrkugeln“ erschossen. Seine Frau entkommt den Nazis, weil sie von Krywyj Rih nach Almaty, der früheren Hauptstadt Kasachstans, flieht. „Seit Juni 1941 haben die sowjetischen Behörden ‘Evakuierungen’ aus den Frontgebieten nach Zentralasien und Sibirien organisiert“, erläutert der Akademiker Thomas Chopard, ein Spezialist für die Geschichte der Juden Mitteleuropas und der sowjetischen Ukraine. „Dies betraf insgesamt 17 Millionen Zivilisten. Almaty gehörte zu den Bestimmungsorten, ebenso wie Taschkent.“ 

(…)

Die Schrecken der Macht

Dienstag, 9. Mai 2019. Wolodymyr Selenskyj hat sich auf die Steinbank gesetzt, die vor dem Grab der Familie seines Vaters steht. Am Horizont ist eine lange schwarze Halde zu sehen, wie sie für die Bergbaustädte der Region Dnipro und den Südosten der Ukraine typisch ist. Ihm gegenüber, in den Marmor des Grabsteins eingemeißelt, die Porträts einer Frau im Alltagskleid und eines Mannes in der Uniform der Roten Armee, mit Ordensspangen und Auszeichnungen: seine Großeltern, Anna und Semen Iwanowitsch Selenskyj.

Der sechste Staatschef der unabhängigen Ukraine ist am 21. April mit 73 Prozent der Stimmen gewählt worden – sechs Prozentpunkte mehr als jener Präsident, den er in der Serie Diener des Volkes spielt. Er hatte sich gelobt, daß eines seiner ersten Ziele draußen das Grab seines Großvaters sein würde. Es liegt am äußersten Ende des Wsebratske-Friedhofs in Krywyj Rih, dem Heimatort der Familie, 450 Kilometer von Kiew entfernt. Semen ist der jüdische Oberst, der es seinem Einsatz an der Front während des Zweiten Weltkriegs zu verdanken hat, daß er den Massenmorden der Nazis entgangen ist. Als sein Enkel hier erscheint, um den Jahrestag des Sieges von 1945 zu feiern, will er seinen Landsleuten eine schnelle Geschichtslektion vermitteln.

Außer seinem eigenen Handy ist keine andere Kamera dabei. Der Wahlkampf hat es bewiesen: Sein Handy ist sein bestes Kommunikationsinstrument. Nein, schreibt er auf Instagram und Facebook, als er den Friedhof verläßt, den Krieg hätten nicht allein die ukrainischen Nationalisten gewonnen: Notwendig sei die Hilfe der Sowjetmenschen gewesen, wie etwa seines Großvaters. Ebenfalls läßt er eine Botschaft an die russischen Nachbarn einfließen: „Der Beitrag der Ukrainer [zum Erfolg] war gewaltig. 

(...) 

Bravo für diesen Sieg über den Nazismus!“

Zehn Tage später wird Wolodymyr Selenskyj offiziell als Präsident der Ukraine eingeführt. „Bravo, ‘Wowa’, endlich hast du eine richtige Arbeit!“, amüsieren sich seine Freunde vom Studio Kwartal, der von ihm in Kiew gegründeten Produktionsfirma. Jeder steuert ein eigenes Kompliment bei, selbst in Moskau: „Viel Glück, Wolodja“, gibt der berühmte russische Komiker Maxim Galkin zum besten. Tatjana Lasarewa, eine nach Spanien emigrierte russische Komikerin, freut sich auf ihrem „Insta“ wie ein Kind: „Jetzt kenne ich einen Präsidenten persönlich ...“

Seine Wahl widerspricht allen Regeln der alten politischen Wissenschaft, und die Wunderserie Diener des Volkes verkauft sich plötzlich auf allen internationalen Fernsehprogramm-Märkten. Das Land hat gesehen, wie er im Fernsehen groß wurde, oft verkleidet, manchmal plump, aber stets voller Energie und Schwung. Mit ihm kommt eine neue Generation an die Macht. Diejenige, welche die fünf Buchstaben „UdSSR“ lebenslang auf ihrem Paß trägt, deren Geburtsland aber verschwunden ist, und vor allem diejenige, die in der unabhängigen Ukraine erwachsen geworden ist.

(…)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.