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LI 133, Sommer 2021

Artefakt und Biosphäre

Für eine neue Architektur an der Schwelle zum Anthropozän

Rückblickend wird uns der tiefgreifende globale Wandel, dem wir meist unbewußt beiwohnen, ähnlich der slow catastrophy der Erderwärmung, wie eine Explosion in Zeitlupe vorkommen. Zwischen 1950 und 2050 werden unsere Generationen eine Wende durchgemacht haben, deren Ausmaß die Geschichte der Menschheit übersteigen und sich in die viel größere Geschichte des Planeten einschreiben wird.
     Mehr denn je steht der Städtebau im Zentrum dieser Geschichte, und zwar nicht länger als Sinnbild einer idealen Welt, einer Utopie, sondern als die konkrete Herausforderung, unsere Existenzbedingungen zu sichern. Die Frage, wie die Welt im 21. Jahrhundert zu bebauen, zu bewohnen und zu denken ist, drängt mehr denn je und macht ein neues Verständnis von Architektur erforderlich. Dabei geht es nicht um eine phantasmagorische Überhöhung von Architektur, sondern darum, bei den Architekten als zentralen Akteuren des urbanen Zusammenhangs den Sinn für ein fortschrittliches und politisches Engagement zu wecken, um der zynischen – und teilweise mutwilligen – Instrumentalisierung der Stadt durch den weltweiten Kapitalismus und die Ökonomie des Spektakels Einhalt zu gebieten. Unser alltägliches Handeln kommt heute nicht mehr um eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Situation herum, um ein Inventar der aktuellen Veränderungen.

Die erste Revolution ist demographischer Natur: Nach Jahrtausenden relativer Stabilität erfährt die menschliche Weltbevölkerung seit 1950 ein spektakuläres Wachstum. Meine in den 1960er Jahren geborene Generation wird in ihren neunzig Jahren Lebenszeit eine Verdreifachung der Weltbevölkerung erleben – von 3 Milliarden Menschen 1960 auf 9 Milliarden im Jahr 2050. An eine allgemeine Urbanisierung der Lebensweisen geknüpft, bringt dieses demographische Wachstum eine urbane Explosion überraschenden Ausmaßes mit sich: Zwei Drittel des voraussichtlichen Baubestandes in 205o existierte zur Jahrtausendwende nicht, und jeden Tag wird auf der Welt eine Fläche der Größe von Paris intra muros bebaut.
     Diese allgemeine Urbanisierung begleitet und verstärkt die ökonomische Globalisierung. Für den Anthropologen Marc Augé verändern Urbanisierung und Globalisierung nicht weniger als die Definition der Menschheit selbst. Zeitgleich zu dieser grundlegenden Veränderung ereignet sich eine dritte industrielle Revolution: Im Übergang von der fordistischen Welt zu einer „hyperindustriellen“ Ära entsteht eine Ökonomie des Immateriellen, die ein  Netzwerkmodell favorisiert, das  auf offenen Systemen, partizipativen Produktionsmodi und hybriden Kooperationsformen basiert. Diesem neuen kognitiven Kapitalismus entspricht ein nie dagewesenes Organisationsparadigma: Die wirtschaftliche Effizienz hängt dabei weniger von der Produktivität der Operationen als vielmehr von der Qualität der Beziehungen zwischen den Akteuren ab, was eine allmähliche Umstrukturierung der Regierungsweisen nach sich zieht. „Flüssige Moderne“ oder „Hypertextgesellschaft“: Seit Anfang des 21. Jahrhunderts versuchen Soziologen und Anthropologen, diese im Rhythmus der technologischen Innovationen fortschreitende dritte Moderne zu entschlüsseln.
     Ihre wirtschaftlichen Faktoren verschärfen die Konkurrenz zwischen den Megalopolen des Planeten. Sie konzentrieren heutzutage den Reichtum und die Talente in einem supranationalen Archipel – zum Nachteil des weltweiten „Hinterlands“. Durch diese raumwirtschaftliche Organisation werden die Grenzlinien der sozialen Segregation neu gezogen, und es kommt zu verstärkten Ungleichheiten zwischen Gewinnern und Verlierern der ultraliberalen Ordnung – ein offenkundiges und zunehmendes Ungleichgewicht, das unsere Demokratien bedroht. Ihre Gestalt nehmen die gesellschaftlichen Zerklüftungen in den großen Metropolen an – Welt-Städte, in denen man, wie Saskia Sassen analysiert hat, die ganze Diversität, aber eben auch all die Spaltungen findet. Marc Augé sagt demgemäß eine Menschheit mit drei Geschwindigkeitsstufen voraus: eine über wirtschaftliche Macht und Wissen verfügende Oligarchie, eine passive Schicht von Konsumenten und schließlich eine Klasse der von Wissen und Konsum Ausgeschlossenen.
     Der wesentlichste und für unsere Zukunft maßgeblichste Umstand der vergangenen vierzig Jahre ist und bleibt die Gefährdung unserer Umwelt. (…) War der ökologische Fußabdruck der menschlichen Aktivität – ein 1992 entstandener Begriff – 1950 noch geringer als die biophysischen Kapazitäten des Planeten, übersteigt er sie im Jahr 2014 um das Eineinhalbfache. Wenn die Menschheit sich gemäß den aktuellen Tendenzen und Lebensweisen weiterentwickelt, werden wir 2050 zwei Planeten brauchen, um unsere Bedürfnisse zu stillen: Die Sackgasse ist offensichtlich. Da all diese Transformationsprozesse zusammenfallen, müssen wir uns die Erde ganz neu vergegenwärtigen und lernen, sie anders zu begreifen und zu verwalten.

(…)

Angesichts solch grundlegender Umbrüche ergreift den Architekten natürlich die Urangst der Form: Wie ist dieser Paradigmenwechsel konkret zu übersetzen, welche physische Form gebührt dieser formbaren Stadt im Werden, dieser Stadt des Ungewissen, im Kreuzungspunkt der Zukunftstechnologien und eines neuen Bezugs zur Biosphäre? Die notwendige Auseinandersetzung mit den Bedingungen und Transformationen unserer Zeit zeigt im Endeffekt, daß es weniger um eine Veränderung der Formen geht als vielmehr um eine Weiterentwicklung der architektonischen Ansätze und Methoden. Die Stunde der formellen Obsession ist vorüber, genau wie die des Stararchitekten, der willkürlichen Ikone und der egoistischen oder kaufmännischen Signatur: Der Architektur fällt eine zwar nicht neue, aber andere Verantwortung zu.

(…)

 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.