LI 94, Herbst 2011
Gab es eine Alternative?
Terrorismus und imperiale Mentalität, Universalität und zweierlei MaßElementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Englischen von Eike Schönfeld
Textauszug: 5.300 von insgesamt 25.500 Zeichen
Textauszug
Wir haben den zehnten Jahrestag der horrenden Greueltaten vom 11. September 2001 erlebt, die, so die allgemeine Ansicht, die Welt verändert haben. Am 1. Mai wurde der mutmaßliche Kopf des Verbrechens, Osama Bin Laden, in Pakistan von einem Kommando der US-Elitetruppe Navy SEALs ermordet, nachdem er unbewaffnet und ohne Widerstand zu leisten gefaßt worden war.
Zahlreiche Analytiker haben festgestellt, daß Bin Laden, auch wenn er letztlich getötet wurde, in seinem Krieg gegen die USA größere Erfolge erzielt hat. „Er hat wiederholt behauptet, man könne die USA nur so aus der muslimischen Welt jagen und ihre Satrapen besiegen, wenn man sie in eine Serie kleiner, aber teurer Kriege hineinziehe, die sie schließlich in den Bankrott trieben“, schreibt Eric Margolis. „In seinen Worten: Die USA ausbluten.“ Die Vereinigten Staaten, erst unter George W. Bush und dann Barack Obama, „tappten geradewegs in Bin Ladens Falle … Grotesk aufgeblähte Militäretats und Schuldensucht … dürften das verderblichste Erbe des Mannes sein, der glaubte, er könne die Vereinigten Staaten besiegen“ – zumal wenn die Schulden in zynischer Weise von der äußersten Rechten ausgenutzt werden, um, in stillschweigendem Einverständnis mit dem Establishment der Demokratischen Partei, die Sozialprogramme, öffentliche Bildung, Gewerkschaften und überhaupt die verbliebenen Barrieren gegen die Tyrannei der Kapitalgesellschaften zu untergraben.
Daß Washington gewillt war, Bin Laden seinen glühendsten Wunsch zu erfüllen, wurde sogleich klar. Jeder, der die Region kannte, konnte erkennen, „daß ein massiver Angriff gegen eine muslimische Bevölkerung die Antwort auf die Gebete Bin Ladens und seiner Getreuen wäre und die USA und ihre Verbündeten in eine teuflische Falle führen würde, wie der französische Außenminister es formulierte“.
Der leitende CIA-Analytiker Michael Scheuer, seit 1996 verantwortlich für die Suche nach Osama Bin Laden, schrieb kurz danach, daß „Bin Laden den USA präzise die Gründe dargelegt hat, warum er einen Krieg gegen uns führt. Es geht ihm darum, die Politik der USA und des Westens gegenüber der islamischen Welt auf drastische Weise zu ändern“, und er hatte weithin Erfolg damit: „Die US-Streitkräfte und die Politik der USA vollenden die Radikalisierung der islamischen Welt, was schon Osama Bin Laden seit Beginn der neunziger Jahre mit beträchtlichem, aber unvollständigem Erfolg versucht hatte. Ich glaube, man kann mit Recht schließen, daß die Vereinigten Staaten von Amerika Bin Ladens einziger unverzichtbarer Verbündeter sind.“ Und vermutlich auch bleiben werden, noch nach seinem Tod.
Das erste 9/11
Gab es eine Alternative? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß die Dschihad-Bewegung, die Bin Laden in weiten Teilen äußerst kritisch gegenüberstand, nach 9/11 hätte gespalten und untergraben werden können. Das „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, wie es zu Recht genannt wurde, hätte als Verbrechen behandelt und die mutmaßlichen Verdächtigen mittels einer internationalen Operation festgenommen werden können. Das wurde damals erkannt, aber nichts davon auch nur in Betracht gezogen.
In 9-11 zitierte ich Robert Fisks Schlußfolgerung, daß das „horrende Verbrechen“ von 9/11 mit „Bösartigkeit und ungeheurer Grausamkeit“ durchgeführt wurde – eine zutreffende Beurteilung. Es ist nützlich, in Erinnerung zu behalten, daß die Verbrechen sogar noch schlimmer hätten sein können. Angenommen, der Angriff wäre so weit gegangen, das Weiße Haus zu bombardieren, den Präsidenten zu töten und eine brutale Militärdiktatur einzusetzen, die Tausende tötete und Zehntausende folterte und dabei ein internationales Terrorzentrum aufzubauen, mit dessen Hilfe andernorts ähnliche Folter-und-Terror-Staaten errichtet worden wären und eine internationale Attentatsserie durchgeführt worden wäre; und die als Dreingabe eine Gruppe Ökonomen ins Spiel brachte – nennen wir sie die „Kandahar-Boys“ –, welche die Wirtschaft rasch in die schlimmste Krise ihrer Geschichte führte. Das wäre natürlich weit schlimmer als 9/11 gewesen.
Leider ist das kein bloßes Gedankenspiel. Es ist passiert. Die einzige Ungenauigkeit in dieser kurzen Aufzählung ist, daß die Zahlen mit 25 multipliziert werden müßten, um eine Pro-Kopf-Relation, den richtigen Maßstab, zu erhalten. Ich spreche natürlich von dem, was in Lateinamerika häufig das „erste 9/11“ genannt wird: dem 11. September 1973, als die intensiven Bemühungen der USA, die demokratische Regierung Salvador Allendes in Chile mit einem Militärcoup zu stürzen, aus dem General Pinochets brutales Regime hervorging, Erfolg hatten.
Das Ziel war, in den Worten der Regierung Nixon, das „Virus“ zu töten, das all jene „Ausländer, [die] uns linken wollen“, ermutigen könnte, ihre Mittel selbst in die Hand zu nehmen und eine nicht zu duldende Politik unabhängiger Entwicklung zu verfolgen. Dahinter stand die Schlußfolgerung des Nationalen Sicherheitsrats, daß die USA, wenn sie Lateinamerika nicht kontrollieren könnten, kaum erwarten dürften, „anderswo auf der Welt eine erfolgreiche Ordnung herzustellen“.
Anders als das zweite 9/11 veränderte das erste die Welt nicht. Es war „nichts von sehr großer Bedeutung“, wie Henry Kissinger seinem Chef wenige Tage danach versicherte.
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