LI 147, Winter 2024
Ballets russes
Wie Sergei Djagilew und Vaslav Nijinsky den Tanz revolutioniertenElementardaten
Genre: Essay, Historische Betrachtung
Übersetzung: Aus dem Englischen von Thomas Stegers
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Textauszug
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Der Anstoß zu Nijinskys ersten schöpferischen Versuchen stammte hauptsächlich von Djagilew. Er war es, der ihm Debussys sinnliches Tongedicht von 1894 vorschlug, Prélude à l’après-midi d’un faune, nur zehn Minuten lang, der mögliche Schaden wäre daher begrenzt. Er war es, der Nijinsky mit der neuen, von Adolphe Appia und Edward Gordon Craig vertretenen Philosophie des Theaters bekannt machte, die den Schwerpunkt auf Licht und Bewegung statt auf vorgegebenen Text und szenischen Realismus legte. Er war es auch, der Nijinsky nach Hellerau brachte, der Gartenstadt in Dresden. Hier unterrichtete der Schweizer Guru Émile Jaques-Dalcroze in einem nach dem Vorbild Athens gebauten Theater Eurythmie, eine Tanzform, nicht unähnlich der von Isadora Duncan praktizierten, die auf instinktive und improvisatorische Reaktion auf Musik beruht.
Aber Nijinsky hatte eigene Ideen. Zwar nahm er die Einflüsse auf, jedoch entsprang dem Strudel seiner Phantasie am Ende etwas vollkommen anderes. Sein Problem war nur, das, was ihm so eindringlich vorschwebte, auch in Worte zu fassen. Ohnehin wortkarg und ungesellig, schien er in den Proben – knapp hundert – präzise Vorstellungen davon zu haben, was er wollte, ohne sie den zunehmend verärgerten und erschöpften Tänzern erklären zu können.
Einige Aspekte des Stückes waren nicht sonderlich originell: Die Idee, sich im Profil zu bewegen, die Arme angewinkelt, die Handteller nach vorne gerichtet, was an Figuren auf alten griechischen Vasen oder Friese erinnern sollte, war an sich bereits ein Klischee (dominant zum Beispiel in einem Ballett von Fokine für Wagners Oper Tannhäuser, in dem auch Nijinsky aufgetreten war). Und verliebte Faune und schüchterne Nymphen in Schnürsandalen waren ebenfalls nicht unbekannt.
Ganz und gar neuartig an dem Ballett war, daß alle Regeln der eleganten Linienführung über den Haufen geworfen wurden. Keine anmutigen Posen, keine gebeugten Arme, kein Rollen mit dem Kopf, keine Pirouetten oder jetés, ja überhaupt nichts, was man allgemein als Tanz bezeichnen könne. Die Tänzer schaukelten mit den Füßen von der Ferse zu den Zehen, zuckten dabei wie Roboter, statt sich in fließenden Übergängen zu beugen und zu strecken. Ohne jeglichen Gefühlsausdruck in der Mimik bewegten sie sich auch ohne jeden Bezug zum Metrum der Musik, die einen atmosphärischen Hintergrundsound lieferte statt einer Abfolge von Beats, die bestimmte Schritte auslösen.
Schockierend war auch eine Erotik, die bei weitem verderbter war als alles, was man aus Scheherazade kannte. Der Faun, verkörpert von Nijinsky, in einem nach Entwürfen von Bakst gefertigten Feigenblatt-Bodystocking, wurde als amoralisches Tier dargestellt, mit spitzen Ohren und phallischem Stummelschwanz. Träge räkelt er sich selbstverliebt in einer Felslandschaft, da fällt sein Auge auf einige Nymphen, die Erfrischung in einem See suchen. Auf der Flucht vor seinen Avancen läßt die Erwählte ihren Schleier fallen. Der Faun hebt ihn auf und liebkost ihn, legt ihn dann wieder auf den Boden, läßt sich auf ihm nieder und stimuliert sich auf drastische Art bis zum Orgasmus. Diese unverhohlene Darstellung einer Masturbation – dazu phallische Anspielungen, unter anderen die Flöte, auf welcher der Faun kraftlos bläst – war für das Publikum am Eröffnungsabend schwer zu verdauen, so daß die ekstatischen Zuckungen in der Folge abgemildert wurden.
Djagilew wollte unbedingt einen Skandal herbeiführen, und mit Hilfe von Gabriel Astrucs Adreßbuch bekam er ihn. Die Strategie wurde sorgfältig ausgearbeitet. Kaum eine Kostümprobe war jemals mit mehr Prominenz besetzt, darunter Jean Cocteau, André Gide, Pierre Bonnard, Édouard Vuillard, Aristide Maillol, Hugo von Hofmannsthal und Max Reinhardt. Man hatte sie eingeladen, um in angesagten Kreisen für das Ballett zu werben. Zwei Tage später wurde das Premierenpublikum im Châtelet mit überreichlich High Society beehrt. Zum Dank feierte es Nijinskys erstes Ballett mit stürmischem Jubel, gemischt mit Zischen und Buhrufen; und wie um den Furor noch anzuheizen, trat Djagilew vor den Vorhang und kündigte eine sofortige Wiederholung der Aufführung an. In den folgenden Tagen spaltete sich die Presse in zwei Lager. Die Herausgeber des Figaro führten die Attacke gegen L’Après-midi und beklagten die Obszönität, während ein Artikel im Le Matin, unterschrieben, aber nicht verfaßt von einem betagten Auguste Rodin, eine Lanze für das Ballett brach. Kommerziell ging die Taktik auf: Das Theater war bald ausverkauft.
Dieses seltsam elektrisierende Werk markiert in der Geschichte der Ballets Russes eine Wegscheide.
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Fortan spalteten die Ballets Russes die Gemüter auf eine Weise, die typisch für die Publikumsreaktionen bei Veranstaltungen der Hochkultur ist. Eine Mehrheit sehnte sich nach Balletten wie die von Fokine, die ein hauptsächlich im 19. Jahrhundert verhaftetes Konzept der narrativen Kohärenz, Charakterisierung und scharfen Trennung von Phantasie und Wirklichkeit verfolgt sowie an einer Vorstellung von körperlicher Schönheit festhält, die bis in die Renaissance zurückreicht, während eine Minderheit eher auf Stücke anspricht, die alle Regeln bis zum äußersten ausreizt und nach neuen, die Tradition unterlaufenden oder auf den Kopf stellenden Formen sucht. Mehrheit und Minderheit teilen ihre Begeisterung nur selten.
L’Apres-midi d’un faune bedeutet auch eine eindeutige Orientierung am Westen. Im prüden St. Petersburg wäre ein solches Ballett niemals zur Aufführung gelangt. „Wir wären auf der Stelle abtransportiert worden … ins Irrenhaus, oder wegen Rowdytums nach Sibirien verbannt“, räumte Djagilew ein. Da sich die politische Situation in Rußland weiterhin verschlechterte, überlegte er, dauerhaft ins Exil zu gehen.
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