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Cover Lettre International 130, Mark Lammert
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LI 130, Herbst 2020

Bitcoins aus dem Balkan

„Electric Crypto Balkan Acid Test" – Recherchen im jüngsten Staat Europas

Anfang 2018 begannen überall in Europa Millionen von Digitaluhren nachzugehen. Zuerst fiel kaum jemandem auf, daß geringfügige Schwankungen in der Stromversorgung dazu führten, daß an die Netzfrequenz gekoppelte Radiowecker und Herduhren plötzlich nachgingen. Im Januar verschwanden drei Minuten, im Februar drei weitere. Im März veröffentlichte der Verband der europäischen Übertragungsnetzbetreiber ENTSO-E mit Sitz in Brüssel eine Entschuldigung. Wer auch immer diesen beispiellosen Engpaß in der Stromversorgung verursache, müsse „damit aufhören“ – bis dahin jedoch sollten die 36 Länder, die an das gemeinsame europäische Stromnetz angeschlossen waren, die Frequenz ihrer Netzspannung erhöhen, damit die Uhren auf dem Kontinent wieder schneller liefen.
Bei der Rückverfolgung der Stromschwankungen landeten die europäischen Behörden schon bald im Nordkosovo, das als eines der letzten ganglands Europas gilt.           Seit 2015 steht Mitrovica, die größte Stadt der Region, unter Kontrolle der Srpska Lista, einer als politische Partei getarnten Mafia. Um die Zeit, als die Srpska Lista an die Macht kam, schnellte der Stromverbrauch des Nordkosovo plötzlich in die Höhe. Mitarbeiter des Energieversorgungsunternehmens für das Kosovo in der Hauptstadt Priština sagten mir, die Region benötige heute zwanzig Prozent mehr Strom als fünf Jahre zuvor. Bald wurde klar, warum: In der gesamten Region, von den schäbigen Wohnblocks Mitrovicas bis zu den Kellern der Bergdörfer surrten Bitcoin- und Ethereum-Anlagen und versorgten eine Schattenwirtschaft, die Kryptogeld produzierte.
     Anderswo in Europa wären solche Operationen kaum profitabel, die Stromkosten sind einfach zu hoch. Doch im Nordkosovo ist Cryptomining, das Schürfen von Kryptowährungen, fast wie eine Lizenz zum Gelddrucken. Die Region ist eine Anomalie, nicht nur innerhalb des Landes selbst, sondern auch im gesamteuropäischen Vergleich, denn die Bewohner werden für ihren Stromverbrauch nicht zur Kasse gebeten. Aufgrund einer merkwürdigen Fügung des Schicksals bezahlen die Einheimischen für fast keine ihrer öffentlichen Dienstleistungen. Die serbische Regierung, die wenigstens ein Mindestmaß an Kontrolle über das Nordkosovo ausüben möchte, kommt für das Rentensystem und die marode Gesundheitsversorgung des Landes auf, aber auch für die Wasserversorgung und einen Großteil der Müllentsorgung. Für die Elektrizität ist das Kosovo zuständig, das von ethnischen Albanern beherrscht wird, aber gerne so tut, als kümmere es sich um die ethnischen Serben nördlich des Flusses Ibar.
     Als es im Nordkosovo mit dem Schürfen von Kryptogeld anfing, waren die kosovarischen Serben die einzigen Nutznießer. Für eine Bevölkerung, die mit Massenarbeitslosigkeit zu kämpfen hat und durchschnittlich 400 Euro im Monat verdient, war Cryptomining eine relativ mühelose Erwerbsquelle. Einige der Operationen sind allerdings ziemlich ausgeklügelt. Letzten Mai lernte ich in Mitrovica den Mathematiklehrer einer höheren Schule kennen, der den Keller eines Bistros mit 200 Hochleistungsrechnern und einem maßgeschneiderten Kühlsystem ausgestattet hatte – was alles zusammen hunderttausend Euro kostete und irgendwann den Gegenwert von 500 Euro pro Tag erbrachte. Andere improvisieren lieber. In der Grenzstadt Zubin Potok erzählte mir eine Gruppe von Rentnern, sie hätten für 3 000 Euro eine Datenverarbeitungsanlage aufgebaut, die zum damaligen Zeitpunkt binnen eines halben Jahres die Investition wieder hereinhole. Viele Krypto-Unternehmer sind, kaum überraschend, Teenager, die sonst wenig zu tun haben; die Jugendarbeitslosigkeit im Nordkosovo beträgt mehr als fünfzig Prozent.
     Aber albanische Politiker in Priština bekamen schon bald Wind vom Kryptorausch im Nordkosovo. Und trotz ihres mutmaßlichen Hasses auf ihre slawischen Pendants konnten nur wenige einer solchen Gelegenheit widerstehen. Ende 2016 waren auch diese Politiker – von denen manche zwanzig Jahre zuvor Guerilla-Einheiten gegen die Serben geführt hatten – in das Schürfgeschäft eingestiegen. Sie stellten nördlich des Flusses Ibar Hunderte Hochleistungsrechner auf und machten Kasse auf Kosten genau der Steuerzahler, die sie bei jeder Wahl gegen den gesetzlosen und schmarotzerhaften Norden aufstacheln. Heute seien mehr als zwei Drittel der Cryptomining-Farmen in albanischer Hand, meint der Unternehmer Veton Brahimi, der in Priština einen der ersten Bitcoin-Automaten des Kosovo aufgestellt hat. Nach Jahrzehnten eines Konflikts, der zweimal einer ethnischen Säuberung nahekam, hat die Aussicht, reich zu werden, serbische und albanische Politiker dazu bewogen, ihre alten Ressentiments endlich ad acta zu legen.

(…)

Parallel zu den Mauern der Festung Zvečan, auf einem runden Hügel mit Blick über den Ibar, errichtete der Mann, der diese Partisanen befehligte, später eine sechs Stockwerke hohe Roherz-Wanne aus Beton zur Erinnerung an die gefallenen Partisanen. „Wir haben ein Meer von Blut für die Brüderlichkeit und Einheit unserer Völker vergossen. Und wir werden es niemandem erlauben, diese anzugreifen oder von innen her zu vernichten“, erklärte Josip Broz Tito Monate, nachdem er die Deutschen vom Balkan zurückgedrängt und aus Jugoslawien das einzige Land Europas gemacht hatte, in dem nach dem Krieg eine Widerstandsbewegung an die Regierung kam. Die jugoslawischen Wahlen im November 1945 brachten in Belgrad Titos Kommunistische Partei an die Macht. Tito stand vor zwei großen Herausforderungen. Auf materieller Ebene mußte er die zerstörte Infrastruktur Jugoslawiens so schnell wie möglich wiederaufbauen. Jedes fünfte Haus und fast die Hälfte der Industrieanlagen war in den Jahren der Okkupation durch die Achsenmächte zerstört worden. Und dann existierte auf dem Balkan noch ein sehr viel älteres Dilemma: Wie sollte der Flickenteppich der vielen Identitäten Jugoslawiens – sechs Republiken, fünf Nationalitäten, vier Sprachen, drei Religionen, zwei Alphabete – zu einer funktionierenden Föderation geknüpft werden?
     Titos Spielart des Kommunismus hatte eine Antwort auf beide Probleme. Die bis dahin entlang sprachlicher oder religiöser Grenzen getrennten Jugoslawen sollten sich in einem neuen Bewußtsein als Arbeiterklasse mit der „multinationalen Föderation der Arbeiter“ identifizieren. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg machte sich diese Föderation (die es dreist ablehnte, sich an die Seite entweder der Vereinigten Staaten oder der Sowjetunion zu stellen) an das Werk der Erneuerung und setzte ein massives Programm zum Bau von Fabriken, Minen und Siedlungen in Gang, um einer aufstrebenden Arbeiterklasse Jobs und Wohnungen zu verschaffen.
     Die Trepča-Minen waren ein Beispiel – das Paradebeispiel – dafür, wie Jugoslawiens Vision des Kommunismus praktisch umgesetzt wurde. Tito verstaatlichte den Komplex umgehend und gründete Arbeiterräte, die den Bergleuten Anteile an den Trepča-Aktien ausgaben und die Verwaltung des Unternehmens in deren eigene Hände legte. In den nachfolgenden drei Jahrzehnten zentralisierte und diversifizierte die Partei immer mehr Industriebetriebe des Nordkosovo. Mitrovica wurde zu einer Wohnstadt, zum Standort eines Kombinats, in dem Zink und Silber nicht nur gefördert, sondern gleich vor Ort in Düngemittel, Eßbesteck und Munition verwandelt wurden. Für Parteiideologen stand Trepča symbolisch für den Umbau Jugoslawiens: einem Land der Schafhirten und Bauern, das im Begriff war, zu einer Föderation von Ingenieuren und Mechanikern zu werden. Tito, Sohn eines kroatischen Bauern, der seinen ersten Streik in einer Fahrradfabrik in Zagreb organisiert hatte, verkörperte diesen Wandel in eigener Person.
     Trepča wurde rasch zum größten Industriekomplex ganz Jugoslawiens. In den 1970er Jahren arbeiteten hier mehr als 23 000 Serben und Albaner, vier von fünf Arbeitern des Nordkosovo. Trepča war in gewisser Weise ein Modell des jugoslawischen Staats im Kleinen. Das Kombinat schickte seine Bergleute alljährlich für drei Wochen zur Erholung in einen Ferienort an der montenegrinischen Adriaküste und stellte ihnen nach der Pensionierung Wohnungen im Kopaonik-Gebirge zur Verfügung, die für sie gebaut wurden. Der Betrieb gab eine eigene Zeitung heraus (Trepča) und fungierte, wenngleich mit wachsender Ineffizienz und geschwächt von Mißmanagement, als ein gigantisches Förderband, das den Wohlstand von den Bergen herunter in die Haushalte der Arbeiterklasse brachte. „In Trepča … hatten wir einen Ingenieur“, sagte der Montenegriner Svetozar Vukmanović-Tempo, der Titos engstem Kreis angehörte, 1978 in einer Rede, und schwärmte davon, wie weit Jugoslawien es seit den schweren Jahren der Nachkriegszeit gebracht hatte. „Wir sind von einem kleinen unterentwickelten Land zu einem Industriestaat aufgestiegen.“

(…)

In jugoslawischer Zeit, sagte Radivojević, wurden in Trepča über Jahrzehnte hinweg täglich 150 Tonnen Zink sowie jährlich 75 Tonnen Silber und 175 Kilo Gold gefördert – er betonte jede einzelne Silbe –, mehr als an jedem anderen Ort Europas. Trepčas eigentliche Spezialität war jedoch Blei. Jeden Morgen fuhr ein mit 300 Tonnen Blei beladener Güterzug ab, bestimmt für – Radivojević zeigte nach Süden, in Richtung Priština – einen Backsteinkomplex am südlichen Ufer des Ibar. Hier wurde das Blei mit riesigen Magneten aus den Roherz-Wannen gehoben, zu Pulver zermahlen und in Säure umgewandelt. Für die Endphase dieses Prozesses hatte Radivojević – er nimmt erneut die Finger zu Hilfe, als wolle er jeden einzeln aufzählen – 1 373 Arbeiter unter seiner Kontrolle, fast achtzig Prozent von ihnen Albaner. Sie befüllten die von Radivojević selbst mitkonzipierten Batterien mit der Säure. Von Mitrovica aus wurden jedes Jahr 600 000 dieser Batterien in die ganze Welt geschickt, die meisten an Lada-Autofabriken in Osteuropa. „Wir haben unser Patent von Globe-Union in Wisconsin gekauft. Und wir haben es verwendet, um Batterien zu verkaufen, die zum größten Teil in die UdSSR gingen“, erzählte er. „Es war eine für den Kalten Krieg einzigartige Fließbandfertigung – und etwas, das, glaube ich, nur Jugoslawien hatte hervorbringen können.“

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.