LI 125, Sommer 2019
Schauplatz Athen
Die griechische Hauptstadt zwischen Mythos, Geschichte und ModerneElementardaten
Genre: Essay, Historische Betrachtung, Reportage, Stadtporträt
Übersetzung: Aus dem Englischen von Herwig Engelmann
Textauszug: 9.581 von 85.382 Zeichen
Textauszug
Europas südlichste Hauptstadt Athen ist eine unbarmherzige Betonwucherung mit bald dreißig Kilometern im Durchmesser, 4 Millionen Einwohnern und mindestens einer halben Million Migranten und Flüchtlingen. Athen ist Teil des Balkans, aber nicht slawisch. Es gehört zum Nahen Osten, ist aber nicht muslimisch. Und obwohl es in Europa liegt, kann man es nicht westlich nennen. Seine antiken Bürger behaupteten, sie seien aus dem Staub der attischen Ebene erschaffen. Seine neuzeitlichen Bewohner kamen in der großen Mehrheit von anderswo, geflohen nicht nur aus den Bergen und von den Inselketten des heutigen griechischen Staatsgebiets, sondern von überall aus dem Griechenland der „zwei Kontinente und fünf Meere“, das man sich einst als große panhellenische Nation erträumte. Athen ist die Grabinschrift dieser nationalen Vision und ihr desaströser Schlußpunkt. Nicht „alt“ in dem Sinn, wie Rom und Istanbul alt sind, weil dort die Geschichte über viele Jahrhunderte kontinuierlich verlief, ähnelt es in seiner Entwicklung eher Rangun, das jahrhundertelang nichts als ein verschlafenes Fischerdorf mit sagenumwobener Vergangenheit und einer stattlichen Pagode war. Als Schwerpunkte hellenischer Besiedlung waren Alexandria und Trapezunt bis 1880, Smyrna bis 1900 und Konstantinopel und Thessaloniki bis in die 1920er Jahre bedeutender. Anders als in Rom stehen in Athen nur noch vereinzelte Bauten aus dem 18. Jahrhundert. Fast jeder zweite Grieche lebt in der Hauptstadt: eine Bevölkerungskonzentration, wie man sie innerhalb Europas sonst nur in Reykjavík findet. Athen ist bei weitem die größte Stadt auf dem Balkan. Hier leben allein fast so viele Menschen wie in ganz Albanien und Mazedonien insgesamt.
Dennoch war und ist Athen für die meisten Außenstehenden nicht mehr als eine Fußnote zur Geschichte der griechischen Antike. 5 Millionen Ausländer jährlich besuchen die Stadt, und die allermeisten sind beseelt von einer Vorstellung Athens, wie es zu Perikles’ Zeiten gewesen sein mag, bevölkert von Dichtern und Rednern, Göttern und Göttinnen. Diese antike, kaum mehr als ein halbes Jahrhundert existierende dünne Schicht der Stadtgeschichte wurde auf einen Sockel gehoben und durfte zwei Jahrtausende lang in den Köpfen des barbarischen Nordens vor sich hin fermentieren. Hunderte neue Geschichtsbücher widmen sich jährlich diesem Zeitfragment. Wer sich dagegen für die Geschichte des neuzeitlichen Athen interessiert und des Griechischen nicht mächtig ist, wird kaum fündig.
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Das heutige Athen ist vor allem ein Ergebnis des Kalten Krieges. In dieser Zeit modernisierte es sich und kehrte zugleich sein klassisches Antlitz deutlicher hervor. Von diesen beiden Entwicklungen wurde nach dem Griechischen Bürgerkrieg der größte Teil der vor 1949 erbauten Stadt kannibalisiert. Im Zuge eines frenetischen Baubooms schoß ein riesiges Mittelschichts-Ballungsgebiet wildwuchernd aus dem Boden. Es bunkerte ein sehr zahlreiches, halb proletarisiertes, halb verbürgerlichtes ehemaliges Landvolk in einer Hauptstadt, die gerade noch Krieg gegen viele dieser Menschen geführt hatte. Die Verstädterung Athens unterschied sich von allen anderen auf dem Balkan insofern, als sie strikt antikommunistisch ausgerichtet war und fast ausschließlich auf der Basis privater Transaktionen stattfand. Weniger als fünf Prozent der Mittel dafür kamen vom Staat. Mindestens ein Viertel der neuen Wohnhäuser wurde gesetzwidrig oder ohne Genehmigung gebaut. Das ist die Großstadt, die man aus der Flugzeugperspektive sieht: eine graue, unterschiedslose, graffitiverschmierte Agglomeration fast ohne öffentlichen Raum, die sich als zerklüftete Betonmasse über das attische Becken zieht.
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1936 ergriff das Militär in einer Zeit wirtschaftlicher Not und verbreiteter Unruhen unter dem königstreuen General Ioannis Metaxas die Macht. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs gelang es Metaxas, das politische System völlig zu zerstören. Er schickte seine rechte Hand, Konstantinos Maniadakis, nach Berlin, um von Himmler die wirksamsten Methoden zur Bekämpfung des Kommunismus zu erlernen. Diesen verfolgte er wie ein Bluthund, und es gelang ihm beinahe, die kommunistische Bewegung zu zerstören. Außenpolitisch folgte Metaxas der Tradition, sich an England zu orientieren, und er konnte auch eine italienische Invasion aus Albanien abwehren.
Das ungefähr war die Lage, als die Wehrmacht im April 1941 das Land überrannte. Die Briten schifften die griechische Armee, den König und die politische Elite nach Ägypten aus und überließ linken Zivilisten den Widerstand gegen die Besatzer. Nazi-Offiziere waren im Hotel Grande Bretagne gegenüber dem ehemaligen Palast Ottos einquartiert. Melos und Ägina ausgenommen, wurde von den alten Kronländern nur Athen der direkten deutschen Kontrolle unterstellt, und diese Besatzung war um nichts weniger verheerend als andere im damaligen Europa. Durchschnittlich 2 000 Athener starben pro Tag im Winter 1942, als die Wehrmacht Akte des Widerstands mit Massenerschießungen kollektiv bestrafte.
Obwohl der Widerstand seine Basis hauptsächlich in den Bergen hatte, verfügte er auch über wichtige Nester in und um Athen, in versteckten Tälern des Hymettos, in den Straßen von Kaisariani sowie in den Gemeinden Nikea und Drapetsona von Piräus. Tumultartige Proteste am 24. Februar 1943 gegen eine angekündigte Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften führten zu blutigen Zusammenstößen mit den Besatzungskräften und nötigten die deutschen Behörden, ihr Vorhaben aufzugeben.
Daß die Griechische Volksbefreiungsarmee ELAS dabei am erfolgreichsten agierte, lag nicht nur daran, daß zwei Jahrzehnte der Unterdrückung die Kommunistische Partei gelehrt hatte, im Untergrund zu agieren. Es hatte auch damit zu tun, daß das Netzwerk der KKE weit über Athen hinaus den Leuten auf dem Land gegenüber direkt verantwortlich war und daß es den Staat in ihre Hände legen wollte. In den Endphasen der Besatzung hatte die ELAS der Wehrmacht die Kontrolle über beinahe das gesamte Festland entrissen. Sie gründete einen Bergstaat rund um ihr Hauptquartier in Evrytania, wo sie im April 1944 auch Wahlen abhielt – bei denen erstmals in Griechenland auch Frauen wählten. Hier keimte kurzzeitig jener Staat, den Athen nie geschaffen hatte.
Als die deutschen Besatzer am 12. Oktober 1944 abzogen, stand die Hauptstadt selbst kurz vor der Einnahme durch die ELAS, deren Machtbereich bereits den größten Teil von Piräus abdeckte und bis auf drei Kilometer an den Syntagma-Platz herangerückt war. „Wir haben den Widerstand von den Bergen aus begonnen“, erzählte mir Manolis Glezos in seinem Haus in Neo Psychiko. Als junger Partisan war er einen Monat nach dem Beginn der deutschen Besatzung in der Dunkelheit auf die Akropolis geklettert und hatte die dort wehende Hakenkreuzfahne abgenommen. „In Athen selbst rechneten wir uns dann aber die besten Chancen aus, den nächsten großen Kampf zu gewinnen.“ Glezos erzählte von einem Versuch der Widerständler, nach dem Ende der Besatzung das Grande Bretagne mitsamt den britischen Offizieren in die Luft zu sprengen. Die Männer dafür hatte die ELAS mit rund 50 000 bewaffneten Kämpfern in Attika allemal, und das nötige Gerät für die Einnahme der Stadt in der Zeit zwischen dem Abzug der Deutschen und der Landung der britischen Truppen traf am 18. Oktober 1944 ein. Doch dann erhielt die Führung der KKE Anweisung von einem sowjetischen Gesandten, mit den Briten zu kooperieren. Das entsprach der zwischen Churchill und Stalin bei der Moskauer Konferenz einige Wochen zuvor vereinbarten „prozentualen“ Aufteilung der Einflußsphären. Demnach ging Griechenland an die Briten, Rumänien an die Sowjetunion und Jugoslawien je zur Hälfte an beide Seiten.
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Die Stadtentwicklung nach dem Krieg löste nie das Problem unzureichender oder überhaupt nicht vorhandener Infrastruktur. Sie legte über die Vorkriegsstadt einfach eine neue Metropole, in der Gewerbe-, Industrie- und Wohngebiete nicht formell getrennt wurden und in der bis heute kein ordentlicher Kataster existiert. „Wir haben die Bukarester Straße aufgegraben, um die erste Fußgängerzone Athens zu schaffen“, erzählte mir Stefanos Manos, ein Minister für Bauaufgaben in den Jahren nach dem Obristenregime:
„Sie erwies sich als archäologische Fundstätte. In einem halben Meter Tiefe fanden wir die Gleise einer Straßenbahn von Anfang des Jahrhunderts. Als wir tiefer gruben, stießen wir auf ein Kanalsystem, das es dort schon seit dem vorigen Jahrhundert gegeben haben mußte. Das war kein Rohr, sondern ein richtiger gemauerter Tunnel. Aber das Interessanteste daran war, daß die meisten der hohen Häuser rundherum in keiner Weise an diesen Tunnel angeschlossen waren. Ihr gesamtes Abwasser versickerte einfach im Boden. Und das im Jahr 1978.“
Eine Million Kubikmeter Wasser müssen täglich in den Ballungsraum Athen geleitet werden. Das geschieht über offene Kanäle, die bis nach Aitoloakarnania 200 Kilometer weiter im Westen führen. Das Abwasser endet im Saronischen Golf, wofür Griechenland täglich 35 000 Euro Strafe an Brüssel bezahlt. 6 000 Tonnen Abfall pro Tag einzusammeln kostet die Stadt weitere 30 000 Euro an Strafzahlungen, weil sie den Müll widerrechtlich und wahllos entsorgt. Touristen tragen zum enormen Plastikverbrauch bei – eine Million Kaffeebecher zum Mitnehmen täglich, mindestens so viele Wasserflaschen. Nur 13 Prozent davon werden wiederverwertet. Der Restmüll wird nachts aus hunderttausend Rolleimern überall in der Stadt geholt und auf siebzig Deponien, darunter zahlreiche illegale, verteilt.
Naturkatastrophen richten in Athen oft unverhältnismäßig große Schäden an.
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