LI 93, Sommer 2011
Freiheit und Sitte
Aspekte der Naturkatastrophe in JapanElementardaten
Textauszug
(…) Es ist eine gesittete Gesellschaft, in der nicht nur ein Konsens darüber besteht, was „sich gehört“ und was man nicht tut, sondern auch, wie man sich dementsprechend verhält. In Tradition befangen, repressiv, konformistisch und unfrei mag man das vor der Folie einer Gesellschaftsordnung nennen, welche die Freiheit des einzelnen als höchsten Wert achtet. Und so ist die japanische Gesellschaft oft beschrieben worden. Immer wieder stößt man etwa auf das den Charakter der japanischen Gesellschaft angeblich versinnbildlichende Klischee vom hervorstehenden Nagel, der eingeschlagen werden muß. Nicht Individualität und Originalität fördere sie, sondern Anpassung und Mittelmaß. Aber mehr als blinde Unterordnung und mangelnden Individualismus manifestiert das sittsame Verhalten der Erdbebenopfer die von einer zivilisierten Gesellschaft entwickelte kollektive Intelligenz, die Voraussetzung für das Überleben in Katastrophen ist.
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Die gesunde Vernunft gebietet es, die Sittlichkeit aufrechtzuerhalten, da ohne sie der Mensch ein Wolf unter Wölfen ist – wie in New Orleans. Die Sitte schränkt die Freiheit des einzelnen ein; wenn ihr aber jeder folgt, verkörpert sie den Gemeinwillen. Dieser Gemeinwille wird im Katastrophenfall erkennbar: Es ist der Wille zu überleben, aber nicht auf Kosten anderer.
Gerade starke Persönlichkeiten beachten die guten Sitten auch in Zeiten der Not, weil sie wissen, daß die Kakophonie unerträglich wird, wenn die Menschen die Partitur wegwerfen und panisch nach einem Rette-sich-wer-Kann handeln, ohne Rücksicht dem Imperativ der unbedingten Freiheit des einzelnen folgend. Die Menschen, denen die Flutwelle Angehörige sowie Hab und Gut genommen hatte, wußten, ohne darüber nachzudenken, daß die Sitte das einzige war, was ihnen geblieben war und ihnen ihre Würde zu bewahren erlaubte, auch unter menschenunwürdigen Umständen. Die Sitte macht den einzelnen zum Teil eines Ganzen, und dieses Bewußtsein gibt den Opfern der Katastrophe die Kraft zum Überleben.
Die japanische Gesellschaft ist auf die Vermeidung von Chaos gut vorbereitet. Die häufigen Naturkatastrophen, vor allem Erdbeben und Taifune, haben dazu beigetragen, aber Respekt vor den Kräften der Natur ist nicht das einzige. Es handelt sich um eine Gesellschaft, in der Haltung, Selbstbeherrschung, Achtung der guten Form, Rücksicht und die Gewißheit, daß es richtige Verfahrensweisen gibt, zentrale Mechanismen der Verhaltensregulierung darstellen, die um so wichtiger sind, je größer die Schwierigkeiten werden. Jeder weiß, daß eine mißliche Lage noch mißlicher wird, wenn man die Fassung verliert. Das ist für andere hinderlich und auch für einen selber, denn mit der Selbstbeherrschung verliert man auch die Selbstachtung. Daß das Gedränge schlimmer wird, wenn man drängelt, liegt auf der Hand. Nicht zu drängeln ist ein Gebot der guten Sitten, das man im eigenen Interesse beachtet. Im sozialen Umgang der Tsunamiopfer zeigte sich die Wirksamkeit solcher Mechanismen, und sie zeigt sich im städtischen Alltag, wo trotz räumlicher Beengung Rücksichtnahme die Regel ist. Nicht die Emanzipation von den Zügeln der Moral eines anything goes gewährleistet die Freiheit des einzelnen – allenfalls eine Freiheit, in der jeder auf sich selbst angewiesen ist, den richtigen Weg zu finden –, sondern die Teilhabe an einem Ganzen, einem größeren moralischen Willen, der Halt gibt, wo alles andere in Haltlosigkeit versinkt.
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