LI 47, Winter 1999
Häuser
Elementardaten
Genre: Essay
Übersetzung: Aus dem Englischen von Martin Richter
Textauszug
(...) Ein Aspekt entzieht sich jeder Klassifizierung. Wie findet man im Haus einen Platz für die Einsamkeit?
Ich kenne viele Bewohner des Hauses, und nicht wenige von ihnen sind einsam, aber ich weiß nicht, wo sie sich treffen. Landsleute - eine besonders harte Spezies von Menschen, die sich nicht nach Ländern oder Nationen, sondern nach Landesteilen oder Städten gruppieren, werden nie zugeben, daß es unter ihnen einen Einsamen geben kann. Das Fehlen einer Internationale der Einsamen ist für sich noch kein Problem oder ein Thema, das längerer Diskussion bedarf. Wenn es nur um den psychologischen Aspekt des Problems ginge, ließe die Sache sich leicht durch Gründung einer Harry Haller-Vereinigung lösen. Ich bin sicher, es gibt zahlreiche Gesellschaften der Schizophrenen, Paranoiker und Melancholiker, wenigstens ebensoviele wie die Vereinigungen von Psychiatern und Psychoanalytikern. Einsamkeit ist jedoch eine Kombination der allgemeinen gesellschaftlichen Situation, unterschiedlicher Überzeugungen und besonderer Veranlagungen, daher erscheint sie nie als einzelne Kategorie.
Leben Einsame mehr in der Vergangenheit als andere? Oder werden sie stärker vom Zauber der Erinnerungen angezogen? Wenn die Vergangenheit den Schlußstrich zieht, sind die Einsamen ausgeschlossen. Madame Vergangenheit hat viel mehr für die Sache der Allgemeinheit übrig. Sie mag Teamwork. Die Vergangenheit wird hergestellt. Erinnerung geschieht, und zwar individuell.
Inwieweit war Proust an der Schaffung der Vergangenheit beteiligt? Dieser verwirrte und unsichere Schilderer einer verschwindenden Welt (oder eines Hauses) hätte sich kaum vorstellen können, eines Tages zum Markenzeichen einer ganzen Klasse oder Epoche zu werden. Kafka ebensowenig. Es ist schwer, sich ein Zeitalter vorzustellen, in dem Proust und Kafka hedonistische, gruppenorientierte Missionare werden könnten. Wenn sie "ihrer Zeit voraus waren", heißt das, ihre Zeit kommt noch? Die Vorstellung, daß eine Gesellschaft, d. h. eine gesellschaftliche Situation, so einsame (unglückliche, unangepaßte, melancholische) Charaktere hervorbringt, ist überaus komisch.
Natürlich kennt Madame Vergangenheit immer die beste Art, den Raum im Haus zu verteilen, so daß Proust wie Kafka ihren (un)verdienten Platz bekommen. Tatsächlich bemüht sich die Vergangenheit besonders um die Einsamen. Es sind genau diese inaktiven seltsamen Geschöpfe, die leidenschaftlich gern die "verschwindende Welt" beschreiben. Das ist eine Tatsache, egal ob sie diese Welt lieben oder hassen. Proust, Kafka, Stefan Zweig und sogar Solschenyzin, Menschen von unterschiedlichem Charakter und Temperament und ganz sicher mit unterschiedlichen Erfahrungen, alles große Einsame, scheinen immer zu wiederholen: dies gibt es nicht länger, die Welt ist zerfallen, ein falscher Weg wurde eingeschlagen, wir haben an das Falsche geglaubt ... Obwohl diese Haltung oft als moralische erfahren wird, ist sie im Grunde rein ästhetisch. Wahre Einsamkeit ist stets voller Ironie.
Wenn ein Haus abgerissen oder umgebaut wird, verbreitet sich die Einsamkeit allgemein. Alle Räume des Hauses sind seit langem vergeben (nach Plan). Die Vergangenheit trifft Vorbereitungen für die unsichtbare Zukunft, während der unermüdliche Hausmeister Wirklichkeit die stummen Anordnungen ausführt. (Ich habe nie gehört, daß die Zukunft reagiert hätte.)
Einsamkeit ist jedoch ein recht schimpfliches Phänomen. In Moral wie Ästhetik bedeutet sie nicht nur das Vermeiden von Ordnung und der Harmonie gemeinsamen Lebens, sondern auch etwas, das den Großen Plan der Geschichte stören und gefährden kann. Einsamkeit legitimiert den Zweifel am Neuen ebenso wie den Abscheu vor der Gegenwart und die Idealisierung der Vergangenheit. Einsamkeit hat keine ideologischen Vorurteile. Sie ist zugleich links und rechts, konservativ und liberal. Ich möchte wirklich wissen, was aus der Einsamkeit im neuen Haus werden wird.
Welche Sprache spricht Madame Vergangenheit?
Unsere natürlich!
Aber unsere Sprache ist sehr vielgestaltig.
Ist es der jekavische oder ekavische Dialekt, der südliche oder nördliche Akzent? Eher städtisch oder ländlich? Vielleicht gebraucht Madame Vergangenheit alle Sprachen (je nach Bedarf) und spricht selbst eine einzigartige Standardliteratursprache. Sie kann sich aber auch direkt ausdrücken - durch Prä-Bilder, die sie direkt ins Gehirn projiziert, wo das Zeitgefühl sitzt. Also gerät der Wortschatz des 19. und 20. Jahrhunderts oft durcheinander. Wörter, die 150 Jahre in Büchern geschlafen haben, erwachen. Wie Samenkörner werden sie von den Landsleuten ausgestreut. Die selbstgefällige Madame Vergangenheit lacht hysterisch durchs Haus, weil sie die Wörter aufbewahrt und wiederbelebt hat, die man seit langem für ausgestorben hielt.
Madame Vergangenheit kümmert sich nicht speziell um Identität, das geht mit ihrer sonstigen Tätigkeit einher. Identität ist wundersamerweise ein Massenphänomen. Ich würde sogar sagen, sie ist die Folge der weitreichenden Versuche das Haus aufzulösen und zu erneuern. Es gibt eine Vielzahl von Identitäten, und die nationale ist nur eine davon. Zum Beispiel Generations-, Geschlechts-, Familien-, berufliche, intellektuelle oder politische Identität ... Und Madame Vergangenheit hat jede einzelne geprägt.
Ich kann mich nicht entscheiden, welche dieser Identitäten für das künftige Haus die wichtigste ist. Sobald ich eine auswähle, enttäuscht sie mich. Zum Beispiel die Generationsidentität. Ich frage mich oft, ob wir alle zur selben Zeit gelebt haben. Haben wir eine gemeinsame Vergangenheit? Wie kann es sein, daß wir in einen so kleinen Raum gezwängt, beruflich und existentiell im selben Zeitraum geprägt werden und dennoch so unterschiedlich sind? (Seit langem hege ich den ernsten Verdacht, Madame Vergangenheit eröffne jedem einzelnen von uns eine andere Aussicht und einen anderen Horizont.)
Erinnerungen, Gedächtnis, Ressentiments, Erleuchtungen und wer weiß, was noch alles, sind unter dasselbe Dach gezwängt. Madame Vergangenheit kann stolz auf ihr Werk sein. (So viel Ungerechtigkeit, Unglück und erneuerter Haß - genug für drei neue Geschichten und zehn neue Geschichtsbücher.) Ihr Gesicht zeigt jedoch keine Spur von Freude. Ob das Ganze sie krank gemacht hat? Vielleicht ist sie bereit, alles dem frivolen Fräulein Erinnerung zu überlassen. Wie würde das neue Haus aussehen, wenn es von dieser organisiert würde? Wahrscheinlich wie ein großes Zirkuszelt mit zahllosen hineingeschnittenen Eingängen.
(...)