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Cover Lettre International 82, Selma Gürbüz
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LI 82, Herbst 2008

Sex und Metaphysik

Zur Verbindung von Liebeskunst und Spiritualität in Indiens Kultur

Der Islam brachte eine völlig andere Haltung zur Sexualität nach Indien. Sie war den Vorstellungen des östlichen Christentums – von dem der frühe Islam so viele Werte und Einstellungen übernommen hatte – recht ähnlich, vor allem hinsichtlich der Trennung von Leib und Seele, Sinnlichkeit und Metaphysik. Wie ein großer Teil des frühchristlichen Denkens betonte auch der Islam beharrlich die sündhafte Natur des Fleisches und die Gefahren der Sexualität. In Extremfällen ging das bis zur Verherrlichung der sexuellen Enthaltsamkeit und der Jungfräulichkeit. Die frühe islamische Literatur des Iran kennt Liebe oft nur als einen gefährlichen und schmerzhaften Zustand. So verliert im großen persischen Liebesepos Leila und Madschnun letzterer über seiner Liebe zu Leila den Verstand. Er endet erschöpft, hungernd, als ein Irrer („Madschnun“).

Interessanterweise bedeutete die islamische Herrschaft aber keinen Bruch mit der langen indischen Tradition des erotischen Schrifttums. Das Kamasutra überstand diese Zeit nicht nur, sondern es bekehrte mit der Zeit auch die ursprünglich prüden muslimischen Herrscher Indiens zu einem lustvollen Leben. Zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert wurden viele der alten indischen Schriften zur Erotik eigens für die Fürsten und Fürstinnen muslimischer Herrscherhöfe ins Persische übersetzt. Zur gleichen Zeit gab es auch eine große Experimentierfreude in der bildenden Kunst und der Literatur. Dies war das Zeitalter der großen Dichterkurtisanen: Noch im späten 18. Jahrhundert erschien die Ad Begum angeblich splitternackt zu Gesellschaften, war aber so kunstvoll am ganzen Körper bemalt, daß alle sie für bekleidet hielten.

Sie schmückt ihre Beine mit wunderschönen Zeichnungen nach Art von Pyjamas, anstatt diese tatsächlich zu tragen. An Stelle der Manschetten zeichnet sie Blumen, die genauso aussehen wie auf den feinsten Stoffen der Osmanen.“

Zu dieser Zeit entstand in der „Dichtersprache“ Urdu auch ein neues Repertoire aus Wörtern und Metaphern, mit denen man Begierden zum Ausdruck bringen konnte. Die Arme der Geliebten wurden mit Lotusstengeln und ihre Schenkel mit Bananenstauden verglichen, ihr geflochtenes Haar mit dem Ganges und ihr rumauli – ein Wort, das geprägt wurde, um die feine Haarflaumlinie zu bezeichnen, die sich unterhalb des Nabels über den Bauch einer Frau zieht – mit dem Fluß Godavari. In demselben Geist schrieb auch der muslimische Dichter Shauq (1783 bis 1871) aus Lucknow unter dem Titel Fareb-i-Ishq oder „Die Schliche der Liebe“ zahlreiche Paarreime. Damals bemühten sich die muslimischen Schneider, nicht wie heute nach Maßgabe der Wahhabiten schwere Burkas herzustellen, sondern möglichst durchscheinende und entblößende cholis oder Blusen. Die Weber schufen dafür besonders leichte und zarte Stoffe mit sprechenden Namen wie baft hawa („verwobene Luft“), ab-e-rawan („fließendes Wasser“) und shabnam („Abend-tau“).

Ein ähnliches Denken herrschte in den Werkstätten der Miniaturmaler. Im Delhi des 18. Jahrhunderts ließ Mu-hammad Shah II., einer der letzten Mogulherrscher, Miniaturmalereien anfertigen, die ihn mit seiner Geliebten beim Liebesspiel zeigen. Weiter im Süden, in Hyderabad, bedienten sich Künstler für ihre Miniaturen bei dem umfangreichen Schatz an erotischer Kunst aus vorislamischer Zeit und vor allem bei der Bilderwelt der duftenden Gärten der Lüste. Auf ihren Bildern verwöhnen Kurtisanen mit ebenso üppigen Formen wie die nackten apsaras – die schönen, himmlischen Geister in den uralten Steinskulpturen der Pallava – juwelengeschmückte Fürsten. In allen anderen Teilen der islamischen Welt wären solche Bilder undenkbar gewesen.

Kein Zufall ist, daß die erwähnten Übersetzungen erotischer Klassiker in den weniger durchgehend islamisierten Dekkansultanaten des südlichen Mittelindien entstanden. Hier trugen aber auch muslimische Autoren zur erotischen Literatur in den Palastbibliotheken bei und schufen Werke wie das Lazat al-Nissa („Entzücken der Frauen“) und das Tadhkirat al-Shahawat („Buch der Aphrodisiaka“). Beide Werke wurden eifrig gelesen und kopiert.

In einem wunderschönen Buch über die muslimische Kultur an den Herrscherhöfen der Dekkansultanate beschreibt Akbar Husain, wie unter diesen Herrschern Lehrbücher zum Anlegen von Lustgärten mit stimulierenden Kräutern kursierten. Es gab sogar Literatur über die Kunst, die Schlafgemächer im Palast mit Düften zu saturieren, so daß sie die Wollust verlängerten und steigerten. Dazu mußte man nicht nur Bouquets aus Nachthyazinthen und anderen stark duftenden Blumen auf verschiedenen Höhen im Raum anbringen, sondern nach Meinung des Autors auch eine Vielfalt von Zitronen- und Jasminessenzen verbrennen, Blumensträuße in gläsernen Vasen neben dem Bett plazieren und die Laken so anheben, daß sie sämtliche Düfte absorbierten. Das alles wirke „anregend, erhöht die Manneskraft und steigert die Lust“. Verglichen damit wirken die Massageöle und Duftkerzen im Angebot des Body Shop jämmerlich plump.

Der plötzliche Bruch mit der erotischen Tradition Indiens geschah also nicht in islamischer Zeit, sondern erst mit Beginn der britischen Kolonisation und ausgehend von den christlichen Missionaren um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Erst nach deren unerbittlichen Schmähreden gegen die „Sittenlosigkeit“ der Hindus begann eine britisch erzogene Generation indischer Reformatoren, sich gegen die eigenen Traditionen zu stellen. Es entstand eine Bewegung, die sich für das Verbot von Kurtisanen aussprach. Keuschheit und Bescheidenheit wurden als höchste Zier der hinduistischen Frau propagiert

Wenn es um die Erotik im vormodernen Hinduismus und die uralten indischen Weisheiten der Liebeskunst geht, herrscht unter Indern und Inderinnen auch heute noch meist peinliches Schweigen. Als der Gesundheitsminister der nationalistischen Hindupartei Bharatiya Janata vor ein paar Jahren gefragt wurde, wie man auf die Ausbreitung von Aids in Indien reagieren solle, antwortete er: „Indiens angestammte Traditionen der Keuschheit und Treue waren wir-kungsvoller als der Gebrauch von Kondomen.“

Immerhin gibt es erste Anzeichen eines Wandels. Umfragen zum Thema Sexualität in indischen Zeitschriften lassen vermuten, daß sich auch hier die strengen Sitten etwas lockern, und zwar nicht nur in den großen Städten. Überall hat man den Eindruck, daß die Saris lockerer sitzen. Als indische Marktforscher sich auf die Suche nach einem Namen für eine neue indische Kondommarke machten, mit der ein Hersteller die aufkeimende sexuelle Revolution bedienen will, lautete das Ergebnis vielleicht ebenso vorhersehbar wie unausweichlich: „Kama Sutra“.

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