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Cover Lettre International 77, Francesco Clemente
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LI 77, Sommer 2007

Qurratu’l-Ayn - Trost der Augen

„Ihr ganzes Wesen war Auflehnung.“ Dieser Kommentar eines Literaturhistorikers, der nicht als Ausdruck von Sympathie gemeint war, resümiert das kurze Leben einer der außergewöhnlichsten Frauen in der jüngeren Geschichte. Fatemeh Baraghani – den Spitznamen „Qurratu’l-Ayn“ (Trost der Augen) hatte sie von einem führenden Kopf der religiösen Reformlehre im Iran -bekommen, sein Nachfolger Bab, Begründer eines neuen Glaubens, nannte sie „Tahirih“ (die Reine) – war die erste Frau in der islamischen Welt, die, vor mehr als 150 Jahren, in der Öffentlichkeit ihren Schleier abnahm. Sie glaubte, daß aller Reichtum Diebstahl sei, schrieb Gedichte und wissenschaftliche Abhandlungen und war noch keine dreißig Jahre alt, als sie in der heiligen Stadt Kerbela Religionsschüler unterrichtete, wobei sie sich hinter einem Vorhang verbarg. Da sie eine tragende Rolle bei der Bildung einer unterdrückten religiösen Bewegung spielte, sind die meisten ihrer Schriften verlorengegangen oder zerstört worden; in ihrem Geburtsland Iran bemühte man sich zudem, sie aus den Annalen der Geschichte zu tilgen. Ihr neuerlicher Bekanntheitsschub verdankt sich vor allem den Forschungen, die in den vergangenen 28 Jahren im Iran von der säkularen feministischen Bewegung ausgegangen sind.

Ihre Lebensumstände waren bereits von dem französischen Diplomaten Comte de Gobineau, dem britischen Orientalisten Edward Brown und einer Reihe weiterer damaliger Iranreisender aufgezeichnet worden. Daß sie dem westlichen Feminismus dennoch unbekannt ist, dürfte, wie man nur vermuten kann, an einem eurozentristischen Provinzialismus liegen, dem das Vorstellungsvermögen fehlt, eine Frau ihres Formats mit dem Kulturkreis ihrer Herkunft in Einklang zu bringen. Gleichwohl kann jegliche Auseinandersetzung über die Frage, ob der heutige Feminismus in nichtwestlichen Ländern – und speziell in der islamischen Welt – „importiert“ oder „indigen“ sei, erst dann über die bloße Vermutung hinausgelangen, wenn man die Geschichte Qurratu’l-Ayns und ihre historischen Zusammenhänge kennt.

Die im Jahr 1814 in der Stadt Ghazwin im Zentraliran geborene Qurratu’l-Ayn stammte aus einer bekannten und wohlhabenden Familie. Ihre Leidenschaft fürs Lernen veranlaßte ihren Vater, Qurratu’l-Ayn und ihrer Schwester Lesen und Schreiben beizubringen sowie Hauslehrer zu bestellen, die ihnen die Grundlagen des Wissens der damaligen Zeit vermittelten. Als Kind ging Qurratu’l-Ayn zu der privaten Jungenschule der Familie, wo sie hinter einer Tür versteckt den Unterricht verfolgte. So hatte sie schon in frühen Jahren einen Begriff von arabischer Literatur, Rhetorik, Theologie, islamischem Recht und der Interpretation des Koran. Ihr Bruder, seinerseits ein gelehriger Schüler, sagte über seine Schwester: „Wir trauten uns in ihrer Gegenwart nicht viel zu sagen. Ihr ungeheures Wissen schüchterte uns ein. Bei Diskussionen argumentierte sie so klar und überzeugend, daß es uns beschämte.“ Sie besaß ein erstaunliches Erinnerungsvermögen, und ihr Vater soll zu ihr gesagt haben: „Ach! Wärest du doch als Junge geboren – die Welt hätte mich mit Lobpreis überschüttet.“
 
Mit 14 Jahren wurde Qurratu’l-Ayn dem ältesten Sohn ihres Onkels väterlicherseits zur Frau gegeben, dem sie im Laufe ihres Ehelebens zwei Söhne und eine Tochter schenkte. 1828, kurz nach ihrer Hochzeit, folgte sie ihrem Mann nach Kerbela, wo dieser seine Studien fortsetzen wollte: in dem Ort, der zusammen mit Nadschaf (heute beide zum Irak gehörig, damals unter osmanischer Herrschaft) ein Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit bildete.

Die religiöse Hauptauseinandersetzung innerhalb des Schiismus fand zu jener Zeit zwischen den „Osuli“ (den damaligen Fundamentalisten) und den fortschrittlichen „Scheichi“ statt. Qurratu’l-Ayn war bereits vertraut mit der Kontroverse, da einer ihrer Onkel ein Scheich war, während der andere, nun ihr Schwiegervater, zu den Osuli gehörte und als erster bevollmächtigter Geistlicher eine Fatwa aussprach, gegen den Gründer der scheichistischen Lehre. Dieser Scheichi-Führer starb zwar eines natürlichen Todes, jedoch erst nachdem man sein Haus angegriffen und seine Bibliothek niedergebrannt hatte. Als sein Nachfolger, Sayyid -Kazim Rashti, von osmanischen Agenten vergiftet wurde, sammelten sich einige von dessen Anhängern um den jungen Gelehrten Sayyid Ali Mohammad, der auch unter dem Namen Bab bekannt war. Dieser entwickelte die scheichistischen Reformen des Schiismus, brach schließlich mit ihm, verfaßte ein eigenes Buch und rief den Babismus als einen neuen Glauben aus.
 
Im Mitte des 19. Jahrhunderts nach wie vor feudal beherrschten Iran war es undenkbar, daß neue Ideen außerhalb eines religiösen Rahmens geäußert wurden, und die Lehren Babs waren von Eigenwilligkeiten und inneren Widersprüchen durchzogen. Gleichwohl waren sie in mancher Hinsicht revolutionär:

„Die Welt gehört Gott. Alles Gut gehört Ihm, aber eine kleine Gruppe von Menschen hat an sich gerissen, was unter euch allen gerecht aufgeteilt werden sollte. Wir erklären, daß das Eigentum von größtem gesellschaftlichen Übel ist.“ Die Babi meinten, daß Bauern keine Abgaben an die Landbesitzer entrichten sollten. Der Bab trat für die Ausweitung öffentlicher Kommunikationsmittel wie Post- und Telegraphenwesen ein sowie für eine einzige Währung und die Einrichtung von Druckereien, die bis dahin noch nicht im Land existierten. Er war für eine allgemeine Schulpflicht, gegen die Todesstrafe und sprach sich dagegen aus, kleine Kinder zu schlagen. Auch maß er der Situation von Frauen im Denken des Scheichismus mehr Wichtigkeit zu. Er verbot die Polygamie, vertrat die Ansicht, daß bei einer Heirat beide Parteien einwilligen müßten, und befürwortete den Kontakt von Mann und Frau in der Öffentlichkeit. Darüber hinaus, um einen Historiker zu zitieren, der sich in jüngerer Zeit mit der Babi-Bewegung befaßt hat, „hob er den Schleierzwang für Frauen auf“. Die Popularität seiner Ideen sowohl bei progressiven religiösen Intellektuellen wie bei der ärmeren Bevölkerung alarmierte die Gerichte und die etablierten geistlichen Führer. Er wurde verhaftet und saß bis zu seiner Hinrichtung im Alter von dreißig Jahren im Gefängnis.

Als Fatemeh Baraghani – Qurratu’l-Ayn – nach 13 Jahren in Kerbela, wo sie beständig mit den Ideen der Scheichi und den damit zusammenhängenden lebhaften Debatten in Berührung gekommen war, mit ihrem Mann in die gemeinsame Heimat zurückkehrte, waren ihre Ansichten über das Leben nicht mehr die gleichen wie früher. Sie schrieb eine Abhandlung, in der sie das Denken der Scheichi verteidigte, und übersandte sie dem zu dieser Zeit noch lebenden Scheichi-Führer Sayyid Kazim Rashti. Überwältigt von ihrer Gelehrtheit und ihrem Argumentationsvermögen, gab dieser ihr den arabischen Namen Qurratu’l-Ayn.

Das Leben mit einem Mann, der einer fundamentalistischen Gedankenwelt verhaftet war, wurde für Qurratu’l-Ayn unerträglich. Sie ließ ihre Kinder bei ihrem Vater und ging zurück nach Kerbela, diesmal in Begleitung ihrer Schwester und ihres Schwagers. Bei ihrer Ankunft war der Führer der Scheichi bereits tot; seine Frau bat Qurratu’l-Ayn, die Lehre ihres verstorbenen Mannes fortzusetzen. So kam es, daß Qurratu’l-Ayn im Alter von 29 Jahren Islamschüler unterrichtete, hinter einem Vorhang verborgen, die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite.

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