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Cover Lettre International, Coralie Salaün
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Inhaltsverzeichnis

LI 119, Winter 2017

Selbstmord in Echtzeit

Die Pariser Banlieue, die verlorene Welt und der Ruhm des frühen Todes

 

„Quand j’partirai ne venez pas pleurer sur ma tombe. Combien sont sincères?“ (Der Rapper La Fouine)


(„Weint nicht an meinem Grab, wenn ich aus dem Leben gehe. Wie viele meinen es ehrlich?“)

 

GRIGNY

Bis in die 1960er Jahre, als sich die neue Welt mit Ingrimm gegen die alte zu wenden begann, war die von Flußtälern durchzogene Gegend südlich von Paris mit hübschen, durch die Eisenbahn an die Moderne angeschlossenen Kleinstädten übersät. Viele der stolzen Bahnhöfe und Postämter aus dieser Zeit sind seither verkommen, aber noch bewahren sie die Erinnerung an die einstige Alchemie von Stadt und Land. Zweigleisig hielt der industrielle Elan, der espresso der wirtschaftlichen Ausdehnung (den erst die Italiener auf den Punkt brachten, indem sie Koffein und Eilzüge in einem dampfgetriebenen Wort vereinten), Einzug selbst in den ländlichsten Dörfern. Mit einem Mal konnten auch die Landwirte der Provinz verderbliche Güter nach Paris schicken, wo diese sich, keine zwei Stunden vom Acker entfernt, in den überladenen Ständen von Les Halles zu Hauptstadtpreisen verkauften. Zugleich wurden die Dörfer erfaßt von der höheren Macht der Stadt, die ihre Hand nach ihnen ausstreckte. Denn auch die Fabrikanten konnten nun auf den Schienen ihre Produkte weit ins Land verbringen. Warum also nicht gleich außerhalb der Hauptstadt produzieren, wo Grund und Boden und Arbeit billig waren?
     Da war beispielsweise das Städtchen Arpajon, dessen Obst und Gemüse in Les Halles so dringend benötigt wurden, daß man beide über eine 37 Kilometer lange Bahnlinie direkt verband. Doch mit der Gründung neuer Unternehmen, darunter mehrerer Brauereien und Gerbereien und insbesondere einer 1859 errichteten Schuhfabrik, wuchs auch die Bevölkerung in Arpajon rasch an. Es entstand ein neues Bürgertum, das sich große Häuser in einem selbstgenügsam-ortsgebundenen Baustil errichtete: außen verkleidet mit grob behauenem Stein, mit farbenfroh bemalten Fenster- und Türstürzen, unnatürlich hoch und schmal. Parks wurden angelegt, hübsche Einkaufsstraßen und ein pompöses Rathaus erbaut. Der Bahnhof, Ursprung all der Segnungen, war dementsprechend imposant.
     Ausnahmen wie das Dorf Grigny unweit von Arpajon, um das die Eisenbahn einen Bogen machte und das deshalb einem älteren Zeitgefühl verhaftet blieb, bestätigen die Regel. Grigny wurde zur Sommerfrische: Pferdekutschen brachten Tagesausflügler aus Paris von der nächstgelegenen Bahnstation zu seinen Touristenlauben, wo die Leute sitzen und die kräftigende Landluft atmen und sich am Anblick der sanft gewellten Hügellandschaft erfreuen konnten. Aber auch diese zeitlose Idylle wurde von einem leichten Schauder der aufkommenden Moderne erfaßt, denn in der Ferne jenseits der arbeitenden Bauern in den Kornfeldern zog sich die strenge Linie des Vanne-Aquädukts über den Horizont. Entstanden in den 1860er Jahren als Teil des großen Hauptstadtumbaus unter Baron Georges-Eugène Haussmann, füllte diese Wasserleitung die unersättlichen Zisternen von Paris mit Wasser aus 200 Kilometer entfernten Quellen. Heute ist Grigny eine schmierige Anhäufung von Wohnblöcken aus den siebziger Jahren. Vor den Schulen wehen die Flaggen Frankreichs und der Europäischen Union, und auf ihre frisch renovierten Fassaden sind erbauliche Sprüche großer weißer Männer gemalt. Aber diese sollen nur bröckelnde Klassenzimmer verbergen. Ärzte wollen in Grigny nicht arbeiten. Die einzige staatliche Poliklinik ist stets von der Schließung bedroht, obwohl hier gleich mehrere Gesundheitsprobleme grassieren wie kaum anderswo in Frankreich, beispielsweise eine regelrechte Epidemie von HIV-bedingten Krankheiten unter jungen Frauen. Die Hälfte der Jugendlichen sind arm und haben nichts zu tun. Diese Leere füllen sie oft mit Drogen und Kleinkriminalität. Die hohen Kosten der Diebstahlbekämpfung haben kürzlich den einzigen Supermarkt aus Grigny vertrieben, seine riesige Halle steht nun leer. In den übrigen Läden sind die Regale durch Absperrungen vor den Kunden geschützt, die sich von den Verkäufern Zahnpasta oder Shampoo reichen lassen müssen. Das einzige neue Unternehmen in der Stadt ist die Moschee, ein beinahe fertiger, finster dreinblickender Klotz aus Beton und Glas, dessen Bau ausschließlich mit Spenden der örtlichen Muslime finanziert wird und deshalb schon fast zehn Jahre dauert. Grigny erinnert an nichts so sehr wie an ein Großraumgefängnis, denn es wird kein Platz für irgendwelche Vergnügungen oder Marotten verschwendet, und es gibt keine Einrichtungen außer solchen, welche die Insassen gefügig und am Leben erhalten: das Krankenhaus, die Sportanlage, den befestigten Polizeiposten. Man weiß zwar nicht, welches Verbrechen die Bewohner dieser Agglomeration begangen haben, aber die zynische Wahrheit läßt sich überall ablesen: an den wohlmeinend-herablassenden Straßenporträts von Martin Luther King oder Nelson Mandela ebenso wie an den nach schwarzen Schauspielern, Jazzmusikern und Spitzensportlern benannten Häusern. Dies ist eine von Frankreichs ausgewiesenen Zones urbaines sensibles, und niemand zweifelt an der eigentlichen Bedeutung der bürokratischen Beschönigung „sensibel“.
     Grigny ist immer noch berühmt unter den Vororten von Paris, jedoch längst nicht mehr für seine einst idyllische Landschaft. Hier erreichten die Vorstadtkrawalle von 2005 ihre schlimmsten Ausmaße, als Jugendliche aus der Stadt das Feuer auf die Polizei eröffneten und zwei Schulen niederbrannten. Erst im vergangenen Jahr wären hier beinahe zwei Polizisten in ihrem Einsatzwagen lebendig verbrannt. Sie kamen nach Grigny, um eine von Vandalen beschädigte Überwachungskamera zu untersuchen. Eine Bande kapuzenvermummter Jugendlicher zertrümmerte die Scheiben des Autos und warf Molotowcocktails hinein. Das Gewaltmonopol des Staates bröckelt, und die Stadt gewöhnt sich resigniert an brennende Autos, Schießereien, Drogenhandel. Neulich schaffte es Grigny wieder einmal in die internationalen Schlagzeilen, als herauskam, daß Amedy Coulibaly in einer dieser Siedlungen aufgewachsen ist. Der selbsternannte IS-Kämpfer Coulibaly fuhr am Tag nach dem Überfall auf Charlie Hebdo in die Pariser Innenstadt und schoß dreimal hintereinander an verschiedenen Orten der Stadt um sich. Am Ende wurde er in einem jüdischen Supermarkt an der Porte de Vincennes gestellt und erschossen. Aber auch dieser traurige Ruhm verändert in Grigny selbst nichts. Es ist und bleibt einer der hoffnungslosesten Orte in ganz Europa. Von Drogen ausgelaugte Zombies torkeln auf den Straßen, und Mütter träumen von nichts anderem, als ihre Kinder auf irgendeinem Weg aus der Stadt zu bringen. Handlungsunfähige Lokalbehörden reden unterdessen den Bewohnern zu, sich in ihr Schicksal zu fügen. Die Zikkurats der Siebziger bekommen einen frischen Anstrich, und die Stadt hat ein fröhliches neues Wappen.
     Wie konnte es so weit kommen?

     (…)


ATEMNOT IN ÈGLY

     Égly liegt direkt am Flußufer und überblickt die sanfte Landschaft, der diese Gegend einst ihre Beliebtheit verdankte. Da es sich aber nahe dem Ende einer RER-Linie befindet, stellt sich in Égly ein heftiges Gefühl von Atemnot ein. Kein einziges Café oder Geschäft hat geöffnet, während ich durch die Straßen schlendere, und nirgendwo ist ein Mensch zu sehen. Ein Hund jault auf einem Balkon, wo ihn der abwesende Besitzer angeleint hat. Die Ladenschilder erzählen vom Verfall: des Antiquitätenhandels, des Friedhofs, des Bestattungsinstituts, der Obdachlosenunterkunft. Die regionale Mülldeponie ist anscheinend der einzige Grund für Ortsfremde, sich jemals hierher zu verirren.
     Es gibt ansonsten eher ärmliche Wohnbauten. In einigen Fenstern lassen sich Spitzenvorhänge von rührender Detailverliebtheit erahnen, die eine Sehnsucht nach Ländern weit im Osten von Frankreich bekunden. Aber fast alle Fenster sind hinter weißen Sicherheitsjalousien verborgen. Das stille Städtchen wirkt nicht so, als müßte man hier in ständiger Angst leben. Dennoch finden sich überall Barrikaden gegen Übergriffe. Ich gelange zur Kirche. Neben ihrem Eingang hängt eine Liste der Angestellten und Geistlichen, von denen die meisten offenbar aus dem französischsprachigen Afrika stammen. Gleich daneben das allgegenwärtige Plakat mit den Anweisungen zum Verhalten bei Terroranschlägen (Deckung suchen hinter einem massiven Gegenstand, Telefon stumm schalten). Ich gehe durch ein paar enge Gassen. Hier stehen noch uralte, bröckelnde Häuser aus den vergangenen Tagen des Dorfes mit Heuschobern und ehemaligen Ställen. Ich komme an einem Café mit verriegelten Fenstern vorbei und gelange zu einem kleinen Polizeiposten. Rundherum warnen Schilder: „Militärische Einrichtung, Zutritt verboten“. Der Zugang erfolgt durch einen Stahlkäfig, den ich betrete, um die Klingel zu betätigen. Das Tor quietscht, und ich dringe weiter vor. Im Inneren sind die Alltagssorgen des Ortes an die Wand gemalt: „Wurden Sie Opfer häuslicher Gewalt?“ Oder: „Gemeinsam gegen dschihadistische Radikalisierung.“ Oder: „Sexuelle Gewalt? Sie sind nicht allein.“ Oder: „Dschihadismus: Angehörige und Freunde, seid wachsam!“ Es ist, als pflegte die Polizei die Vorstellung, daß ihre ganze Arbeit darin besteht, dem Willen der Gemeinde zur Selbstzerstörung entgegenzuwirken. Falls jemand gerade nicht damit beschäftigt ist, seine Familie zu zerrütten, so schließe ich, dann plant er sicher gerade, sich in die Luft zu sprengen. Selbstbeseitigung einer verfemten Bevölkerung? La Fouine, der berühmteste Rapper der Pariser Vorstädte, sagt sinngemäß: „Diese Städte sind längst Friedhöfe, noch bevor irgend jemand gestorben ist.“
     Eine Polizistin nimmt sich meiner an, und ich sage, daß ich ein paar Fragen über Égly stellen möchte. Sie fragt nach meinen Papieren. Ich habe keine dabei. „Wir sind in Frankreich“, sagt sie achselzuckend, „hier geht nichts ohne Papiere.“

     (…)

 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.