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Cover Lettre International 75, David Godbold
Preis: 9,80 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis

LI 75, Winter 2006

Gier und Luxus in Dubai

Die Glitzerstadt am Persischen Gold als Apotheose des Neoliberalismus

Während des Landeanflugs drücken Sie sich die Nase am Fenster platt. Die Szenerie dort unten ist erstaunlich: Ein sechzig Quadratkilometer großes Archipel korallenfarbener Inseln vor der Küste bildet die Form eines nahezu fertigen Puzzles der Welt. Im seichten grünen Wasser zwischen den Kontinenten erkennt man deutlich die versunkenen Umrisse des römischen Kolosseums und der Pyramiden von Gizeh. In einiger Entfernung zeichnen sich drei Inselgruppen in Palmenform mit Halbmonden ab. Hoteltürme, Vergnügungsparks und tausend Villen stehen auf Stelzen über dem Wasser. Die Palmen-Inseln vor der Küste sind über Straßendämme mit einer an Miami erinnernden Strandpromenade verbunden. Hier reiht sich ein gigantisches Hotel und Apartmenthochhaus an das nächste. Entlang der Kailinie erkennt man unzählige Yachthäfen.

Die Maschine verliert über der Wüste des Festlandes weiter an Höhe, und Sie staunen über eine noch unwirklichere Erscheinung mitten im Sand. Umgeben von einem Chromwald aus Wolkenkratzern ragt ein neuer Turmbau zu Babel unglaubliche 800 Meter empor   höher als ein verdoppeltes und aufeinandergestapeltes Empire State Building. Nach der Landung reiben Sie sich vor Staunen immer noch die Augen, während Sie von einem Flughafen-Einkaufsparadies voller lockender Luxuswaren empfangen werden: Handtaschen von Gucci, Uhren von Cartier und kiloschwere Goldbarren. Der Chauffeur des Hotels erwartet Sie in einem Rolls-Royce Silver Seraph. Freunde haben das Armani Inn im hundertsiebzigstöckigen Riesenturm wärmstens empfohlen  ebenso wie dessen Siebensternehotel mit einem Atrium, in dem die New Yorker Freiheitsstatue Platz hätte, und einem Zimmerservice, der unter anderem einen persönlichen Butler beinhaltet. Doch Sie erfüllen sich lieber einen Kindheitstraum: Sie wollten immer schon einmal den Kapitän Nemo aus 20000 Meilen unter dem Meer spielen.

Das quallenförmige Hotel namens Hydropolis befindet sich genau 22 Meter unter der Wasseroberfläche. Jede seiner 220 Luxussuiten hat Plexiglaswände, die eine spektakuläre Sicht auf vorbeischwebende Nixen und die berühmten „Unterwasserfeuerwerke" bieten halluzinatorische Vorführungen von "Luftblasen, Sandwirbeln und raffinierten Lichteffekten". Jeder Zweifel an der Sicherheit des Seebades am Meeresgrund wird von einem souverän lächelnden Portier zerstreut. Der Bau verfügt über ein ausfallsicheres System zur Abwehr aller erdenklichen Gefahren, darunter U-Boote, Raketen und Flugzeuge von Terroristen.

Eigentlich kommen Sie wegen eines wichtigen Geschäftstermins mit Kunden aus Hyderabad und Taipeh in die Internet City. Doch Sie sind schon einen Tag früher angereist, um den berühmten Vergnügungspark Restless Planet zu erleben. Nach einer ruhigen Nacht tief unten im Meer fahren Sie mit einer Einschienenbahn in diesen Jurassic-Dschungel und begegnen zunächst einem friedlich grasenden Brontosaurus. Dann werden Sie von einem Schwarm Flugsauriern attackiert  gebaut von Spezialisten des British Natural History Museum und so täuschend echt, daß Sie vor Schrecken und Entzücken laut kreischen müssen. Nach diesem Adrenalinschub können Sie den Nachmittag mit ein wenig Snowboarden in der Skihalle abrunden. (Draußen ist es über vierzig Grad heiß.) Ganz in der Nähe befindet sich das größte Warenhaus der Welt, zugleich kultisches Zentrum des berühmten Shopping Festivals der Stadt, zu dem jeden Januar Millionen frenetische Konsumenten einfliegen. Doch Sie verschieben diese Versuchung auf später und verwöhnen sich vorerst mit teurer thailändischer Fusionsküche. Die hinreißende blonde Russin an der Bar starrt Sie mit dem Hunger eines Vampirs an, und Sie fragen sich, ob hier die Sünde ebenso extravagant ausfällt wie das Shoppen ...

Willkommen in einem merkwürdigen Paradies. Aber wo sind wir eigentlich? In einem neuen Roman von Margaret Atwood? In der unveröffentlichten Fortsetzung von Philip K. Dicks Blade Runner? Oder hat hier ein Donald Trump zuviel Acid eingefahren? Nein. Wir sind im Persischen Golf, im Stadtstaat Dubai des Jahres 2010. Nach Schanghai (derzeit 15 Millionen Einwohner) ist Dubai mit seinen 1,5 Millionen Einwohnern schon heute die größte Baustelle der Welt. Hier entsteht eine Traumwelt des ostentativen Konsums und eines, wie die Einheimischen stolz behaupten, "unübertrefflichen Lebensstils". Trotz klimatischer Verhältnisse wie im Hochofen (bei den üblichen Sommertemperaturen von fünfzig Grad kühlen die schickeren Hotels ihre Schwimmbecken) und trotz der Lage am Rand eines Kriegsgebietes ist Dubai überzeugt, daß sein Zauberwald der Wolkenkratzer und Einkaufszentren ab 2010 jährlich 15 Millionen Besucher aus allen Teilen der Welt anlocken wird   dreimal mehr als New York. Die Fluglinie Emirates hat bei Boeing und Airbus Maschinen im Wert von 37 Milliarden Dollar bestellt, um diese Touristen von überallher zu Dubais neuem globalen Drehkreuz Jebel Ali Airport und wieder nach Hause zu fliegen. Dank der unheilbaren Abhängigkeit unseres sterbenden Planeten vom arabischen Öl will Dubai, einst Fischerdorf und Schmugglerbucht, zu einer der Hauptstädte des 21. Jahrhunderts werden. Und hier werden keine halben Sachen gemacht: Längst hat Dubai Las Vegas   jenes andere Wüstenarkadien der kapitalistischen Begierden   sowohl in den Dimensionen des Spektakels als auch im maßlosen Verbrauch von Wasser und Energie übertroffen.

Dutzende bizarre Riesenprojekte   darunter die künstliche "Inselwelt" (in der Rod Stewart angeb-lich für 33 Millionen Dollar "Großbritannien" gekauft hat), das größte Hochhaus der Welt (Burdsch al-Dubai von Skidmore, Owings & Merrill), das Unterwasser-Luxushotel, die fleischfressenden Dinosaurier, die überdachte Skipiste und ein gigantisches Einkaufszentrum   sind auf dem Papier so gut wie fertig oder sogar schon im Bau. Das Siebensternehotel im Burdsch al-Arab mit seiner Spinnakerform wirkt schon heute wie die Kulisse eines James-Bond-Films. Es ist in aller Welt berühmt für seine Zimmer in Preislagen von bis zu 5000 Dollar je Nacht, für seine 150 Kilometer weite Aussicht und seine erlesene Klientel arabischer Königsgeschlechter, englischer Rockstars und russischer Milliardäre. Und die Dinosaurier, sagt der Finanzdirektor des Natural History Museums, "werden von London uneingeschränkte wissenschaftliche Weihen erhalten. Sie werden beweisen, daß Bildung und Wissenschaft Spaß machen können." Geld werden sie ebenfalls einbringen, denn "der einzige Weg zum Dinosaurierpark soll durch ein Einkaufszentrum führen".

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.