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Cover Lettre International, Jakob Roepke
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Inhaltsverzeichnis

LI 107, Winter 2014

Die Unruhe über das In-der-Welt-Sein

Gedanken zu Europa. Ein Poem

Ich denke an den Vater, der am Abend auf sein Kind wartet und schweigend vor sich hin betet. Er glaubt nicht an Gott, der Vater, aber er betet dennoch, weil er nicht mehr weiß, an wen er sich wenden soll. Er wartet auf sein Kind, und die Unruhe zieht in ihm schwindelerregende Linien, Sätze und Sätze, die furchtbare Geschichten erzählen von Entführungen, Unfällen, von Kindern, die ausreißen, die verschwinden. Tausende Geschichten, die der Vater, wäre er ein Schriftsteller, in einem Band zusammenstellen könnte. Diesen Band würde er nennen: Tausendundeine Nacht … oder vielmehr: Tausendundeine Nacht des Wartens auf dich. Und man muß das Gesicht des Vaters in diesem Augenblick sehen, das unruhige Gesicht des Vaters, die Schatten unter den Augen, das Gesicht, das wartet und betet oder hofft oder ganz einfach der Vater, der sich um seine Knie schmiegt und wieder betet, das Kind möge da sein vor ihm, gesund und unversehrt.

Ich denke an das Gesicht von Anna Magnani in einem Film von Pasolini. Wir sind in einem Niemandsland unweit von Rom. Die Mutter beobachtet ihren Jungen, der auf einem Karussell sitzt. Während der wenigen Sekunden, in denen sie ihn nicht sieht, steht Ettore auf. Er springt von dem sich drehenden Karussell ab. Dann … das Karussell dreht sich noch. Wo er saß, ist nur mehr die entsetzliche Leere des verschwundenen Kindes. Er ist aufgestanden, er ist fortgelaufen, aber die Mutter weiß es nicht. Die Augen der Mutter in diesem Augenblick! Ihr Junge ist verschwunden, man hat ihn ihr geraubt. Das denkt sie, das sagen ihre Augen. Sie ruft: Ettore! Ettore! Es klingt fast wie: Terrore! Terror der winzigen Augenblicke, Terror eines unvorstellbaren Todes. Die Mutter läuft ihrem eigenen Entsetzen hinterher. Sie läuft ihrer Angst nach. Nach einigen Metern sieht sie ihn dann. Ettore ist nicht davongeflogen, noch nicht. Er spaziert brav auf einem Weg mit den Namen Langeweile. Die Arme baumeln seitlich an seinem Körper. Die Füße schlurfen. Wie Kinder eben so gehen. Die Mutter beruhigt sich. Die Unruhe läßt von ihr ab – aber für wie lange?

                   *

Das nenne ich: Unruhe.
Dieses Wachen und Fürchten, das ständig wächst in uns.
Die Ruhe, die wir erhoffen,
wo sie uns doch mit zunehmendem Alter verläßt.
Die unmögliche Linderung,
deren Erinnerung wir in uns tragen.

                   *

Das war vor langer Zeit.
Vor so langer Zeit, meint man.
In einer Welt von gestern, wie in dem Titel von Stefan Zweig:
Die Welt von Gestern. Als der Mensch im Mittelpunkt stand,
rund um ihn die Stadt und, etwas weiter weg, beherrscht und friedlich,
die Natur, der Zyklus der Jahreszeiten.
Diese vergangene Ruhe ist kaum mehr eine Erinnerung,
ein geträumtes Zeitalter, das wohl nie war –
aber wie soll man es anders sagen?

                   *

Sollte man sagen: Das war unsere Kindheit?
Oder, noch ferner: die Erinnerung
an ein Zeitalter des Denkens, das in uns weiterlebt?
Zeit des Gleichgewichts, der Vernunft?
Erinnerung an das, was der Geist des Humanismus
an Bewußtsein und Hoffnung mit sich trug?
Das: eine schön angeordnete Welt.

(…)

Ich habe mir als Kind geschworen, nie dieses Wort zu schreiben:
Wurzel. Ich habe mir vorgenommen, nie auch nur einen Moment
zu glauben, daß es einmal eine andere Herkunft gab
als unser Bastardentum,
als all die Löcher, welche die Geschichte des Mordes
in uns hinterlassen hat.
Die Löcher zwischen den Wörtern.
Dieser Partei gehöre ich an.
Der Partei der Wörter-Zwischenräume.
Derjenigen, die sich unwissend der Sprache bemächtigt,
weit weg von jeglicher Beherrschung.
Derjenigen, die weiß, daß irgendwann einmal
ihr Wissen, ihre Weisheit kolonisiert wurde
von den Wörtern einer anderen Sprache, die sie
für immer vom Rest der Welt abgeschnitten hat.
Und auch von dem, was uns fehlt:
vom Unsichtbaren, von dem, was sich nicht sagen läßt,
was sich nie in Besitz nehmen läßt.

                   *

Ich habe mir als Kind geschworen, nie dieses Wort hinzuschreiben:
Wurzel, und ich werde mein Versprechen halten.
Es ist ein Wort des Trostes
für diejenigen, die nicht mehr genügend Geist besitzen, um durchzuhalten
und zu überleben in dieser technokratischen und tierischen
Herrschaft der Moderne.
Ich entschuldige sie nicht. Ich verzeihe ihnen nicht.
Alles liegt greifbar vor ihnen.
Und auch ich könnte von der Angst befallen werden.
Wie sie habe ich sie gespürt, die Anziehungskraft dieser Wörter:
Wurzel, Herkunft, aber ich habe gegen sie
einen Damm errichtet.

Ich habe mir geschworen, meinen Ängsten zu trotzen.
Nicht zuzulassen, daß im Lauf der Jahre
die Bitterkeit und die Nostalgie wachsen.
Ich werde nie Erde oder Heimat sagen,
als ob sie etwas anderes wären als flatternde Wörter,
die wir Vorfahren gestohlen haben,
die wir für unsere Väter halten.

                   *

Weil es wohltuend ist, sich eine Geschichte zu erzählen,
sich eine Herkunft nach der anderen zu erfinden:
Fiktionen. Zahllose Fiktionen des Selbst, die hinzutreten
zu den Schichten aller maschinell erfundenen
und geschaffenen Fiktionen. Und auch das: sich hüten vor dem Selbst,
vor der sogenannten Erzählung des Selbst und
eines imaginären Wir.
Sich hüten vor der Illusion
der Abstammung.

                   *

Hört nur, überall!
Aus allen Ländern dieses Kontinents der Mörder,
auf dem die Sprachen, so stolz auf den Geist,
sich dreifach schuldig machten: imperiale,
koloniale, nationale Sprachen; auf dem man, besser als anderswo,
weiß, wie Wörter Mörder fabrizieren.
Wörter von Einzeltätern, die man gestört nennt,
um sich abzugrenzen und zu beruhigen, bis
sie sich decken, diese Mörder,
mit dem Geist der Macht, der Kultur
und des Hungers.

                   *

Diese Wörter, die ich mir geschworen hatte,
nie mehr auszusprechen, sie sind wieder da, sie kehren wieder:
gestern in Norwegen, sie waren es, sie haben geschossen.
Die Wörter einer verstörten und gestörten Romantik,
der Europa seit dem Fall der Mauer verfällt.
Der hirnrissige Hochmut, der sich wieder Waffen holt
im Alptraum einer kulturellen Reinheit, die getragen, gepriesen
und gestützt wird von der täglichen Demagogie und Paranoia.
Seht sie doch! Die wiederbewaffnete Identität!
Überall die Obsession des Selbst und des Nicht-Selbst.
Die alte Pädagogik, die
Weiterführung des Mordes.

(…)
 

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.