LI 90, Herbst 2010
Der Preis der Loyalität
Staatsaufbau, Patronagesysteme und der Marktplatz der PolitikElementardaten
Textauszug
(Auszug/LI 90)
Am fehlenden Willen liegt es sicher nicht, daß der Aufbau staatlicher Strukturen in Krisengebieten nicht vorankommt. Europäische und amerikanische Länder, die sich zur sogenannten „internationalen Gemeinschaft“ zählen, haben nach Afghanistan, in die Demokratische Republik Kongo und nach Sudan – um die drei größten und problematischsten Länder zu nennen – jede Menge Soldaten geschickt. Sie haben viel Geld und Fachwissen investiert. Doch je größer der Aufwand dabei ist, um so mehr scheinen die betroffenen Länder ins Chaos abzurutschen. Niemand weiß, wie die zusätzlichen 30.000 amerikanischen Soldaten in Afghanistan oder die eigens geschaffenen Korruptionsgerichte nach sieben Jahren der Mißerfolge das Problem lösen werden. In Kongo und in Sudan sollten Friedenstruppen der Afrikanischen Union und Wahlen einen Weg aus der anhaltenden Krise weisen. Tatsächlich haben sie beide Länder noch weiter in die politische Sackgasse geführt.
Internationale Experten des state building halten sich an eine schematische Vorstellung dessen, wie ein modernes Land auszusehen hat und wie es zu regieren ist: Afghanistan muß so werden wie Australien, Sudan eher so wie Schweden. Viele Bürger dieser Länder sind derselben Ansicht und wandern in entwickelte Länder aus, sobald sie die Gelegenheit dazu erhalten. Wirtschafts- und Politikwissenschaftler, die internationale Organisationen beraten, sind der Überzeugung, kein Land solle nach seinen ureigensten Regeln funktionieren. Menschenrechtsaktivisten verlangen, daß es auch für ein armes oder von Kriegen zerrissenes Land bei den Bürgerrechten keine zweitbeste Lösung geben darf. Allzuoft bricht derselbe Klüngel internationaler Beamter nach dem Auslaufen seiner Verträge in Kosovo seine Zelte ab, um gleich danach mit derselben Arbeitskultur und Rezeptur des institutionellen Aufbaus in Timor oder Liberia ans Werk zu gehen.
Diese state builder ignorieren die einheimische Politik und schaden den Ländern, die sie am Ende ihrer Mission sich selbst überlassen. Von den Stützpunkten der Vereinten Nationen und den befestigten Botschaften aus gesehen ist man schnell versucht, großfamiliäre Bande oder Patronagebeziehungen pauschal als „Tribalismus“ oder „Korruption“ abzutun. Doch die Mühen des Hamid Karsai zeigen, daß man von keinem Regenten erwarten kann, ein turbulentes Land wie Afghanistan ohne diese eingespielten Machtmechanismen zu regieren. Die tatsächliche Politik in Afghanistan, in Kongo und in Sudan ähnelt in vielem der Politik auf dem Dorf oder in der Familie. Sie gründet auf persönlichen Beziehungen, Loyalitäten und Belohnungen. Diese Prinzipien und Praktiken gelten auf allen Ebenen der Macht: Ein kluger Dorfchef bringt im Grunde alles mit, was auch ein regierungsfähiges Staatsoberhaupt braucht, und der Journalist eines Provinzblattes versteht unter Umständen mehr von den Verhältnissen als ein Politikprofessor. Solche Länder gelten westlichen Parlamentariern und Politikern als „fragil“, weil ihre formalen staatlichen Strukturen zu schwach sind, um politische Konflikte zu schlichten oder Ordnung in die Finanzen zu bringen. Sie sind schwierige Gesprächspartner für westliche Regierungen und internationale Organisationen. Die Weltbank definiert einen fragilen Staat als einen Staat, der mit Hilfe aus dem Ausland nicht effizient umgehen kann. In einigen Fällen haben Bürgerkriege das gesellschaftliche Gefüge zerstört und etwas hinterlassen, das man eine fragile Gesellschaft nennen könnte. Andere Länder verdanken gerade den zähen, eng geknüpften gesellschaftlichen Banden ihren erfolgreichen Widerstand gegen ausländische Invasoren und koloniale Besatzung; diese alten Sozialstrukturen stehen heute einem effizienten Regieren im Weg.
Die Patronage ist der Kreislauf der Politik. Wer heute über Hoheitssymbole verfügt, bestimmt den Herzschlag des Systems, weil er Hilfsgelder oder auch Einnahmen aus dem Bergbau verteilen kann. Wenn das System der Patronage ineffizient und korrupt ist, kann es zur politischen und wirtschaftlichen Krise beitragen und sogar Kriege auslösen. Aber Patronagebeziehungen können durchaus als Depots für Vertrauen und Sicherheit dienen. Wo die formale staatliche Ordnung keine Stabilität und keine öffentlichen Dienstleistungen bietet, lassen sich über Mechanismen der Patronage Ressourcen verteilen, gelegentlich auch auf nachvollziehbar gerechte Weise. Kein Afghane, Kongolese oder Sudanese würde ohne weiteres die bestehenden Netze der Patronage für die vagen Versprechungen formaler staatlicher Institutionen aufgeben.
Wie hat es Omar al-Baschir in Sudan geschafft, trotz mehrerer Bürgerkriege, einer Wirtschaftskrise und internationaler Isolation zwanzig Jahre lang an der Macht zu bleiben? Es fällt auf, daß er im Gegensatz zu den meisten Offizieren, die sich an die Macht putschen, nicht autokratisch regiert, sondern eher als Vorsitzender eines widerspenstigen Aufsichtsrats. Darin sind islamistische Ideologen ebenso vertreten wie Parteibosse und Milizenführer. Jeder von ihnen verfügt über eigene Lehen und Geldquellen. Al-Baschir herrscht nicht kraft seines Charismas, sondern mittels Kabale und Intrige, und es lohnt sich herauszufinden, wie er dies anstellt. Leute, die ihm nahestehen, erzählen, daß er selbst über seinen eigenen Erfolg verwundert ist.
Die Tätigkeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Human Rights Watch und der Save Darfur Coalition war für das Land nicht nur von Vorteil. Das breite humanitäre Bündnis hat zwar viele Informationen über und viel Interesse an Darfur generiert, aber die vorschnellen Verurteilungen seiner Vertreter haben dazu geführt, daß sich fast niemand die Mühe macht, das politische Geschick der Herrschenden in Sudan genauer zu untersuchen. Bei den Darfur-Friedensgesprächen hatte ich Gelegenheit, Doktor Majsub al-Khalifa, den Chef der sudanesischen Delegation, aus nächster Nähe zu beobachten. Er zeigte erstaunliche Nehmerqualitäten und ließ jede Beleidigung an sich abprallen. Er erwies sich als versiert im Umgang mit dem, was man „Dschellabapolitik“ nennt. Dieser Begriff geht auf die arabischen Kaufleute zurück, die früher den Handel entlang der sudanesischen Flußläufe kontrollierten. Inhaltlich könnte man das Wort mit der Bezeichnung „Einzelhandelspolitik“ oder genauer: „Einzelhandelspatronagepolitik“ übersetzen. Es meint die Fähigkeit der Herrschenden, die Loyalität eines anderen Menschen in Form eines Geldwertes taxieren und ihm (von Mann zu Mann) ein entsprechendes Angebot machen zu können. Ein guter Dschellabapolitiker muß den Markt der politischen Gefolgschaft gut kennen und beobachten, weil er wissen muß, ob die Preise in naher Zukunft steigen oder fallen werden.
Zwar beschwerten sich die Darfur-Rebellen während der Friedensgespräche über Majsubs Dschellabataktiken, sie waren jedoch selbst auf dem politischen Markt der Loyalitäten aktiv. In der Schlußphase der Konferenz vom April und Mai 2006, als es in den offiziellen Verhandlungen um den Text des Darfur-Friedensvertrags ging, wurde auf informeller Ebene über etwas viel Wichtigeres gesprochen, nämlich über den Preis der Einigung. Ob Abdel Wahid al-Nur, der Vorsitzende des Sudan Liberation Movement, am Ende unterschrieb oder nicht, hing von einem Punkt ab, der in dem siebenundachtzigseitigen detaillierten Vertrag nirgends Erwähnung fand: wieviel Geld in einen Ausgleichsfonds fließen sollte, der zu al-Nurs persönlichen Verfügung stand (und zur Alimentierung seiner Patronagenetzwerke dienen konnte). Man bot ihm 30 Millionen Dollar, doch er verlangte mindestens 100 Millionen und dazu angeblich noch eine persönliche Abfindung von 5 Millionen, gewissermaßen als Honorar für die Vertragsunterzeichnung. Die offiziellen Verhandlungen über den Text wurden auf Englisch geführt; das Feilschen ging hinter geschlossenen Türen auf Arabisch vor sich. Anderthalb Jahre später kam es erneut zu Verhandlungen zwischen dem Anführer einer der größten arabischen Milizen in Darfur und der sudanesischen Regierung. Diesmal war alles viel einfacher, weil es keine internationalen Mediatoren gab und die Notwendigkeit entfiel, so zu tun, als ginge es um irgend etwas anderes als den Preis einer Einigung. Nachdem man sich handelseinig geworden war, bemerkte Mohamed Hamdan Hamiti, daß er von Khartum eine vierzigprozentige Erfüllung der Zusagen erwarte. Dies, so erklärte er, würde die Angelegenheit für die kommenden 18 Monate regeln. Daß in Darfur mit der Gefolgschaft gehandelt wurde wie auf einem Basar, schien niemanden zu empören. Die Sudanesen haben nicht das geringste Problem mit der Politik des Souk.
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