LI 117, Sommer 2017
Europa ohne Passion
Von einer Politik des Geistes zu einer Utopie des Homo oeconomicusElementardaten
Übersetzung: Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann
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Textauszug
FÜR DIESE große Hoffnung sprach am Anfang alles. Der heilige Thomas und Victor Hugo, eine glückliche Mischung aus christlicher Inspiration und humanitären Zukunftsträumen, edelmütigen Gesten und wahrscheinlichen Aussichten. Ebenso verhielt es sich mit dem unerbittlichen Voranschreiten zur Vereinigung der Nationen in einem gemeinsamen Regierungssystem, wie dies vor einiger Zeit für den Zusammenschluß der Regionen in Nationalstaaten oder auch für solche wirkungsvollen und vereinfachenden Gewißheiten wie „Einigkeit macht stark“ galt. Für den Autor dieses Artikels kam der Einfluß hinzu, den der Europäer Paul Valéry auf ihn ausübte. Sicher war das „mögliche Europa“, das er herbeigewünscht hatte, nicht deckungsgleich mit der EU. Sie war keine Wiedergeburt, die sich auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zurückführen ließe, vielmehr stützte sich diese Vorstellung auf das Europa von Albert Camus und seinem Denken des Südens: Mediterran und sonnenhaft, mit katholischer Patina, war es in später Zeit humanistisch geworden, wobei es allerdings Rom näher als Frankfurt stand. Es begann in Algier, reichte nach Alexandria weiter, gelangte nach Beirut, hielt in Athen inne, machte einen Abstecher nach Istanbul und bewegte sich wieder in den Norden hinauf, über den italienischen Stiefel und die Iberische Halbinsel. Mit anderen Worten: Dabei wurde der Sprache, der Geometrie und den Schöpfungen der Vorstellungskraft die gleiche strategische Rolle zugeschrieben, die wir dem Dow-Jones-Index und den Steuersätzen der Unternehmen zuschreiben.
Um diesem kulturellen Zentrum feste Gestalt zu geben, setzte Valéry auf eine „Politik des Geistes“, die er im Rahmen des Völkerbundes führen wollte.
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ANTIPOLITISCHE MASCHINE
Daß man sein Handeln auf „die Meinung der Elite“ konzentrierte, war gewiß nicht sehr demokratisch, beruhte jedoch wie bei einer Zweistufenwahl auf der Hoffnung, daß „sich der auf die Denkenden ausgeübte Einfluß auf die Regierenden auswirken kann“. Und als Handlungsreisender, der die wesentliche Aufgabe der Zeit vertrat, rühmte der Autor der Charmes („Zaubersprüche“) dieses Projekt zwei Jahrzehnte lang in Zürich, Prag, Wien, Oxford, Lissabon, Rom und Berlin. Derartige Werbungsreisen auf hoher Ebene würden unseren Brüsseler Kommissaren ein mitleidiges Lächeln entlocken, ganz zu schweigen von unseren Programmleitern in den Sendern, den Managern und Lobbyisten für Zuckerrüben, Stahl oder Medikamente. Der New-Look-Europäer ist pragmatisch und matter of fact geworden. Dies ist sein ganzes Problem, das er als eine Lösung angesehen hat. Im Bannkreis der Aura, die im 19. Jahrhundert mit dem europäischen Traum verbunden war, die der Bankette, hat er das Europa des 21. Jahrhunderts gestaltet, das des Bankers, den unbeständigsten aller Träume. Wie kam er dazu? Indem er sich die Utopien des Homo oeconomicus, dieses Gattungsbegriffs für den Menschen von jenseits des Atlantiks, zu eigen machte.
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Alles begann mit einem Fehlstart, und das aus gutem Grund, wo doch Jean Monnet, ein französisch-amerikanischer Geschäftsmann, ein Bankier seines Zeichens, derjenige ist, der sich um Effektivität bemühte und deshalb die Methoden seiner Wahlheimat – und seines Vergleichslandes, wobei er vergaß, was es diesem ermöglicht hatte, seine biblisch-patriotische Religion zu verfestigen – kopieren wollte. Die Gewalt hatte den Vereinigten Staaten zweimal als Geburtshelferin gedient – durch den Unabhängigkeitskrieg und den Sezessionskrieg –, doch ihre Mitwirkung würde es uns ermöglichen, die gewöhnlichen Geburtswehen zu vermeiden, denen sich bisher keine Föderation oder Konföderation – angefangen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft – zu entziehen vermochte. Europa wäre die Ausnahme, welche die Regel bestätigt: eine Föderation ohne einen für sie sorgenden Organisator, eine unbefleckte Geburt, ein Sieg ohne Schlacht. Stalin hatte dafür gesorgt, daß eine derartige Hoffnung feste Gestalt annahm, denn jeder kann ja nur eine Position besetzen, indem er eine Gegenposition einnimmt. Doch nachdem sich das sozialistische Lager aufgelöst hatte, entartete der Pragmatismus der kleinen Schritte zu Autosuggestion und dann zu einer Gebetsmühle. Diese dreht sich immer weiter, allerdings in langsamerem Tempo, doch das Herz ist nicht mehr dabei. Die Meßpriester desertieren. Das ist nicht ihre Schuld. Wechselgesänge und Responsorien schläfern am Ende ein, und die Europaverehrung stellt die erste säkulare Religion dar, die ihren Gläubigen keinen Identitätsnachweis ausstellen konnte, es sei denn, man hielte einen Monopoly-Schein dafür. Um sie über die Unmöglichkeit einer gemeinschaftlichen Erzählung hinwegzutrösten, hat ihnen die Bank eine einheitliche Währung geboten, mit dem Hintergedanken, daß sich die Grenzen in immer weitere Ferne zurückdrängen lassen. Wenn man das Intensive durch das Extensive, etwas noch Besseres durch etwas immer weiter Entferntes ersetzt, go east young man, so ist das eine Formel, die auf einem Kontinent mit einem Minimum an Vielfalt in einem Maximum an Raum funktioniert – aber nicht auf unserem Erdteil, wo es ein Maximum an Vielfalt in einem Minimum an Raum gibt.
Ein Zugehörigkeitsgefühl zu zerstören, ohne ein anderes an seine Stelle zu setzen, ist immer gefährlich. Dann droht der Rückzug auf die Stammesebene, ein falsches Heilmittel und ein wahres Gift. Die politischen Religionen – und in seiner indirekten und einigermaßen blassen Erscheinungsform war der Europäismus eine – verkümmern recht schnell, weil es ihnen an Lebenssaft und vor allem an einem Tutor, einer vertikalen Ausrichtung fehlt. Der Mythos Europa ist übermäßig rasch verblüht, weil er vorausgesetzt hatte, daß ein Verfassungstext ohne gemeinsame Sprache, Erinnerung und Legende als Verankerung dienen könnte. Dieser trockene und substanzlose, sogenannte Verfassungspatriotismus trat hinter dem nun allein herrschenden Geist der Geschäftsbeziehungen zurück, wobei er für entbehrlich hält, was ihm einen Sinn gibt: die Beziehungen der Geister.
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Wenn man die „Dividenden des Friedens“ genießen will, ohne den geringsten (wirtschaftlichen, kulturellen, finanziellen oder währungspolitischen) Kriegsanstrengungen zuzustimmen, und wenn man seine schöne Seele kultiviert, während man anderen die Drecksarbeit überläßt, so heißt das, daß es einem etwas an Würde fehlt. Es ist nicht ungewöhnlich, daß der Pate in Washington die Nase rümpft, wenn er die Kosten für diesen kollektiven Narzißmus tragen muß. Manche hoffen – der Mensch lebt von der Hoffnung –, daß die reservierte Haltung des Bosses seinen Klienten dazu drängt, endlich als Erwachsener aufzutreten und sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Wenn man jetzt sieht, wie ein gewisser Präsident des Europäischen Rats durch die Brüsseler Drehtür verschwindet und als Angestellter von Lehman Brothers wieder herauskommt, wie eine gewisse andere Kommissarin als Aufsichtsratsmitglied einer Gesellschaft auf den Bahamas oder dieser hier als ausgewiesener Experte für Steueroptimierung wieder auftaucht, so bietet dies einen Anblick, über den man sich nicht allzusehr wundern darf: Die offene Verschmelzung der Geschäftswelt und der politischen Welt, der Lobbys und der Kommissionen, ist Teil des Paradigmas. Das bietet sicher nichts, um Respekt zu erwecken, und „es gibt Zeiten“, wie Chateaubriand sagt, „wo man der großen Zahl der Bedürftigen wegen mit seiner Verachtung sparsam umgehen muß“.
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