LI 102, Herbst 2013
Normale Geheimnisse
Über die Milde der Vorhölle und die Unannehmlichkeiten der ExistenzElementardaten
Genre: Kommentar
Übersetzung: Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek
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Textauszug
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Die alten Zeiten feiern fröhliche Urständ
Das Hauptverdienst der Enthüllungen über das angelsächsische System elektronischer Abhöreinrichtungen (Prism, Tempora) und die Überwachung Kontinentaleuropas durch die NSA besteht darin, uns größer zu machen. Es ist allgemein bekannt, daß die Menschheit trotz ihrer zehntausend Jahre an Erfahrung in jeder Generation wieder ins Kindheitsstadium zurückfällt. Allerdings hat jener utopische Infantilismus, welcher der digitalen Generation zu eigen ist – keine Orte mehr, nur ein Netz, keine Territorien mehr, nur ein glatter, grenzenloser Globus –, sie in einzigartiger Weise von den rauhen Wirklichkeiten entfernt (die es doch eigentlich zu umschlingen gilt). Global village, freier Zugang, Abschaffung von Hierarchien, Allgegenwärtigkeit, Gegenseitigkeit und so fort. Auflösung der Machtbeziehungen in der egalitären Sphäre des Wissensaustauschs. Man braucht kein Machiavelli zu sein, um sowohl Mister Snowden als auch Mister Obama zu gratulieren, wenn sie gewissen Pfadfindersprüchen („Wenn alle Jungs der Welt …“) und Lobsängern der virtuellen Revolution eine lange Nase machen, die sich von den neuen Technologien erhoffen, sie würden „die alte Politik“ und ihr großes Schachbrett endgültig in den Schrank sperren.
Was genau haben uns unsere zwei Freunde da nämlich in Erinnerung gerufen (der eine freiwillig, der andere unwillentlich)? Nichts weniger als den Unterschied zwischen Globalität und Universalität. Nein, der Planet ist nicht flach geworden, er hat ein Zentrum und Peripherien, gleichsam einen Bergfried und ein Glacis, es gibt ein Oben und ein Unten, Kontrolleure und Kontrollierte. Die Menschheitsbeglücker Google, Microsoft, Amazon, Apple usw. sind gleichzeitig auch Unternehmen amerikanischer Nationalität. Steve Jobs, dieser supranationale planetarische Held, hatte auch ein Sternenbanner im Rücken, die Cloud verdeckt uns den Patriot Act, und auch das prächtige Google Earth kommt nicht vom Sirius zu uns. Der „Himmelsäther“ ist geerdet, Kabel und Server stecken im Boden, die vielgepriesene Entmaterialisierung der Infrastrukturen. So laßt uns denn zusammen mit ihnen auf dem Boden der Tatsachen landen. Der Stärkste und Reichste verfügt über die Mittel; es wäre unklug von ihm, würde er keinen Profit daraus schlagen. Libido dominandi as ever, aber aufgrund der neuen Fähigkeiten zur Überwachung und Kontrolle nun in zehnfach höherem Maße und versehen mit horrenden Budgets, die jede Konkurrenz ausstechen. Es ist normal, daß ein Imperium alles wissen will, was in seinem Bereich und an seinen Rändern geschieht; es versteht sich von selbst, daß der Starke nur Vorteile darin sieht, den Schwachen eine Ethik der Transparenz zu predigen (wobei vorausgesetzt wird, daß letztere nicht über die entsprechenden Gegenmittel verfügen; daß sie weder das Recht und noch weniger Lust dazu haben). Die Informatik spricht Globish, aber Globish ist kein Esperanto, es ist das Amerikanische, und Amerika hat eine Regierung, Interessen, Drohnen, zu erobernde Märkte … Es ist ein Imperium, erfindungsreich und lächelnd, mit weiß blitzenden Zähnen und frischem Atem, ein nicht mehr und nicht weniger „kaltes Monster“, als die anderen es sind. Plötzlich taucht etwas wieder auf, was man „neoklassisch“ nennen kann: Kräfte- und Machtbeziehungen und also der Konflikt. Der kleine Däumling hat die Spielregeln nicht geändert. Das nationale strategische Interesse gibt weiterhin das Gesetz vor.
Es ist begreiflich, daß das Ektoplasma namens Europa sich beeilte, diese schlechte Nachricht rasch wieder unter dem Deckel zu halten. Es versteht sich wie kein anderer darauf, seine Kultur der Unterwerfung in eine Freihandelsmoral zu kleiden und seinen schwindenden Stolz in stetige Entfaltung. Der loyale Verbündete wundert sich, vom big boss des Lagers des Guten, dem er nur gute Gefühle entgegenbringt, wie ein Feind behandelt zu werden.
Vor diesem Zwischenfall war die Welt einfach. Auf der einen Seite gab es die Feinde des Menschengeschlechts, die „Terroristen“, und auf der anderen Seite uns Westler, gleich Hirten, die in fest geschlossenen Reihen ihre Herde gegen die Wölfe verteidigen. Und auf einmal wird einem aus der gemeinsamen Front heraus ein Bein gestellt. Schrecklich! Die Brüsseler Venus will Mars nicht in die Augen blicken. Sie gibt sich dem süßen Handel hin, von dem der treue Anhänger von Adam Smith zu wissen glaubt, daß er ein Synonym für Glück und Frieden sei. Es ist unangenehm, ihn daran erinnern zu müssen, daß es sich dabei um einen Wirtschaftskrieg zwischen Nationen handelt, in dem alle Mittel erlaubt sind, um den Konkurrenten niederzuringen. Es gibt einige unangenehme Themen, die Herr Barroso und die Seinen lieber nicht ansprechen. Wenn ein Vasall sich im Spiegel betrachtet, packt ihn die Scham. Die Scham ist ein revolutionäres Gefühl, das Europa sich ersparen möchte, indem es den Kopf in den Sand steckt. Es wird seine Revolution nicht machen. Es wird sich nicht verteidigen, denn verteidigen, das heißt angreifen, und schon bei diesem Wort allein sträuben sich einem friedlichen Geist die Haare (der um so konzilianter ist, als er eines Vasallen Geist ist). Das tugendhafte und feierliche Europa zieht die Milde der Vorhölle den Unannehmlichkeiten der Existenz vor. Friede seiner Asche.
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