Direkt zum Inhalt
Cover Lettre International 101, Jürgen Klauke
Preis: 13,90 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis

LI 101, Sommer 2013

Fleisch

Warum wir es verhüllten und weshalb wir es nun entblößen

WENN DIE NACHT irgendwo in Soho, etwa im piekfeinen Wheeler’s nach einem opulenten Essen mit Austern, Heilbutt und Langusten, vorangeschritten war oder wenn sie im Colony, einer Künstlerbar, in der Morgendämmerung zu Ende ging, hob Francis Bacon sein Champagner- oder Whiskeyglas und toastete: „We are meat! Cheerio!“ Bacon faszinierte die Schönheit von Fleisch zeitlebens, wobei er zur malerischen Stimulation nicht selten Metzgerläden oder Harrods Food Hall aufsuchte.

„Wenn man in eines dieser großen Lagerhäuser geht und diese riesigen Hallen des Todes durchschreitet, kann man das Fleisch und die Fische und die Vögel und vieles andere sehen, das tot daliegt. Und selbstverständlich wird man als Maler ständig daran erinnert, daß die Farbe von Fleisch tatsächlich sehr, sehr schön ist. (…) Nun, wir sind ja schließlich selbst Fleisch, potentielle Kadaver. Jedesmal wenn ich einen Fleischerladen betrete, bin ich in Gedanken überrascht, daß nicht ich dort anstelle des Tieres hänge.“

Doch nicht allein Bacons Werk, die moderne Kunst insgesamt findet man, parallel zu den Schlachthallen, übervoll mit Fleisch. Künstler wie Soutine, Grosz, Dix, Lucian Freud oder Wols, aber auch Schwarzkogler, Nitsch, Dunning und Hirst haben Fleisch wie unzählige andere wieder und wieder zum Thema gemacht. Und Lady Gaga liefert die Pop-Inszenierung dazu, wenn sie sich in ein Kleid aus frischen Fleischstücken hüllt, was die kanadische Künstlerin Jana Sterbak mit ihrem Flesh Dress allerdings schon vorgemacht hatte. Dabei messen diese Künstler für ihre Zeit das Spannungsfeld von Tradition und Tabubruch, totem Ding und lebendigem Leib, ästhetisch inszenierter Moral und gewaltsamer Manie, anstößig dunklem Phantasma und grellem Faszinosum aus. Fleisch ist die Ikone der Moderne schlechthin.

Menschen sind gierig nach Fleisch. Sie wollen es verschlucken und sich einverleiben, möchten es mit dem eigenen Fleisch umfangen oder in es eindringen. Sie wollen es sehen, in Körperwelten, Kriegen und Splattermovies. Ob Oliver Stones Platoon, Mel Gibsons Die Passion Christi oder die Bildpolitik des Terrorismus, welche die Nachrichtensendungen mit Blutlachen und Körperresten füllt, überall klafft Fleisch. Einmal als schmerzerfüllte Wunde und aufgerissener Leib. Ein anderes Mal als Körperöffnung voller Lust und Ekstase. Menschen drängen danach, es zu jagen. Die Vorstellung von Fleisch erhitzt ihre Phantasien und versorgt ihre Alpträume mit bizarren Ereignissen. Die sogenannte Nutzung von Pornographie erreicht allein im Internet, glaubt man den Netzbetreibern, satte dreißig Prozent unter privaten Usern. Blutnasses, lustfeuchtes, glänzendes Fleisch, zurückgeführt auf seine Materialität.

Gewebe der Existenz

Fleisch ist ein ganz besonderer Stoff. Abgesehen davon, daß es aufgrund seiner komplexen zellbiologischen Struktur und Funktion als Muskelgewebe Grundlage unserer Körperkraft und Bewegungsfähigkeit ist, dient es karnivoren Lebewesen als externer Energieträger. Ein Gang durch den Supermarkt, ein Blick in den Kühlschrank belehrt darüber, in wie hohem Maß es unserer leiblichen Versorgung dient. Dabei bezieht sich der Begriff, folgt man den Leitsätzen für Fleisch und Fleischerzeugnisse des deutschen Fleischerhandwerks, zunächst auf die an einem Tierkörper verwertbare Skelettmuskulatur:

„Die Skelettmuskeln von Tieren der Arten ‘Säugetiere’ und ‘Vögel’, die als für den menschlichen Verzehr geeignet gelten, mitsamt dem wesensmäßig darin eingebetteten und damit verbundenen Gewebe … Das Zwerchfell und die Kaumuskeln gehören zum Fleisch, während das Herz, die Zunge, die Muskeln des Kopfes (außer den Kaumuskeln), des Karpal- und Tarsalgelenkes und des Schwanzes nicht darunter fallen.“

Doch hat das europäische Recht in seiner Verordnung Nr. 853/2004 diese Definition im Blick auf die Fleischindustrie auf sämtliche Teile warmblütiger Tiere ausgedehnt, die von Menschen verzehrt werden können, also auch auf Innereien und Blut.

Gehen wir über solch nüchterne Verwertungsinteressen hinaus, bei denen die Dehnbarkeit des Verständnisses von Fleisch bereits offenkundig wird, begegnet uns jener materielle Aspekt allerdings auch in Märchen und Sagen. Wenn dort ein hungriger Riese oder eine teuflische Gestalt feststellt: „Ich rieche Menschenfleisch“, dann wird auch der Mensch auf etwas zurückgeführt, das als Lebensmittel nutzbar ist, was man sich einverleiben kann. Hatte John Fords Filmdrama Flesh dieses märchenhafte Thema 1932 noch als zwischenmenschlichen Körpergebrauch inszeniert, so findet Rainer Erlers Thriller Fleisch 1979 zu der modernen Version des Ausweidens und Bewirtschaftens des menschlichen Körpers, indem er einen beängstigenden internationalen Organhandel vorführt. Fleisch ist nicht bloß die Ikone der Moderne, es ist, in Medien und Markthallen, auf Tellern und in Träumen, auch allgegenwärtig. Und das Seltsamste dabei ist vielleicht, je häufiger es in unserem Leben in der einen oder anderen Weise benutzt wird, desto weniger scheint sich der Reiz, den es auf uns ausübt, zu verbrauchen.

(…)

Was in den anatomischen Theatern am toten Leib begann, die Entleerung des Körpers, mündet nun in eine Aushöhlung und Ersetzung in vivo. Die uralte menschliche Hoffnung, die eigene Hinfälligkeit und damit den Tod zu überwinden, seit alters her übertragen in den Kernbereich der Religionen, erfährt im Horizont des fleischlosen Metadesigns des Individuums eine eigenmächtige, von den Göttern unabhängig gewordene Antwort. Eine Existenz jenseits der Biosphäre – und damit der Erde gerät in den Bereich des Möglichen, sobald der Mensch seine organische Konstitution abgeschüttelt hat. Es ist das Fleisch, das ihn in seiner beschränkten globalen Welt festhält. Und so wird er das Universum erst für sich einzunehmen in der Lage sein, wenn er sich von diesem alten irdischen Fluch befreit haben wird.

Inzwischen sind derartige Vorstellungen zu deutlich ins Stadium operativer Untersuchungen und innovativer Zukunftsentwicklungen eingetreten, als daß sie länger als Träumereien einsamer Phantasten abgetan werden könnten. Aus Fantasy-Geschichten wird daher leicht die Arbeitsbeschreibung konvergierender Technologien von Nano-, Bio-, Neuro- und Informationswissenschaften.
„Nachdem die Entwicklung der Wissenschaften und der technischen Wissenschaften schon seit langem zur exzentrischen Kolonisierung … des Körpers … beigetragen hat, führt die jüngste Entwicklung in diesen Bereichen jetzt zu einer fortschreitenden Kolonisierung der Organe und Eingeweide des menschlichen Körpers … Es handelt sich um die letzte politische Form einer Domestizierung, mit der jetzt – als Fortführung der genetischen Manipulation der Tiergattungen und der Dienstbarmachung der sozialen Verhaltensweisen des Menschen – das Zeitalter der verinnerlichten Komponenten anbricht. Der Ort der Spitzentechnologie ist heute in der Tat weniger in der Grenzenlosigkeit des unendlich Großen eines beliebigen Planeten oder des Weltraums zu suchen als vielmehr im unendlich Kleinen unserer Eingeweide und Zellen, aus denen sich die lebendige Materie unserer Organe zusammensetzt. (…) Wie man sieht, handelt es sich um eine vollständige Konversion. (…) Weil man unserer natürlichen Biosphäre nicht entkommt, kolonisiert man – wie schon so oft – einen unendlich viel leichter zugänglichen Planeten, den des seelenlosen Körpers; der entweihte Körper für eine gewissenlose Wissenschaft, die immer schon den Raum des tierischen Körpers entweiht hat.“

Paul Virilio, einer der scharfsichtigsten Zeitdiagnostiker dieser Entwicklung, verwendet den Begriff des „Entweihten“ weder zufällig noch, um bloß ein verstaubtes Pathos zu bemühen, denn er verweist unverkennbar auf den alteuropäischen Sinn des Fleisches. Mithin auf eine Weihe, durch die es sich mit einer Würde ausgestattet sah, welche das Fleisch einer übergreifenden Ordnung zuwies, in der es sich über seine Verdinglichung und Vergänglichkeit hinaus aufgehoben wissen durfte. Eine Ordnung, von der es seine Integrität, Autonomie und Unantastbarkeit gewann. Und es ist, so betrachtet, nicht in Zweifel zu ziehen, wie stark gerade die Umformung des Menschenbilds und seiner Fleischlichkeit, wie wir sie heute erleben, eine ethische und politische Angelegenheit ersten Ranges darstellt.

Der enttabuisierte Körper. Der für sämtliche Operationen und technische Ergänzungen verfügbar gemachte Körper. Die Freisetzung des Fleisches aus dem heilsgeschichtlichen Raum von Teufelei, Theodizee und Erlösungstraum macht es zum Formfleisch für materiale Optimierung. Das Fleisch steht ohne die symbolische Größe einer Inkarnation da, seitdem das Genom entziffert, der Geist neurologisch interpretiert und Zellverbände in Plastikschalen und Nährlösungen produzierbar sind.

Fleisch ist, auch für Kunstmaler oder Plastinatkünstler, nicht länger Inkarnat. In seinem rohen, abgeschnittenen Zustand finden wir es in Kühlregalen, Krankenhausbetten, Pornostudios oder Badewannen, um schließlich einem Ende entgegenzugehen, das in nichts als Dekomposition und Denaturierung besteht.
Doch auch ohne die Symbolik einer höheren Herkunft müssen die brute facts menschlicher Existenz im 21. Jahrhundert vom Fleisch her erzählt werden. Eine Erzählung, die uns an sämtliche Stellen der Realität führt, in Armenviertel wie in Luxussuiten, in Schlachthäuser wie in Kreißsäle, zu Organhandel, plastischer Chirurgie und Biowissenschaft. Jenes über zweitausend Jahre entscheidende Kapitel, in dem das Fleisch von seiner eigenen Überschreitung und Verlinkung mit einer transzendenten Ordnung des Logos spricht, enthält diese Erzählung allerdings nicht mehr.

Nach dem Fleisch

„Den Menschen überwinden“ – das war Nietzsches letzte Vision. In ihrer heutigen technischen Interpretation wird Fleisch zum nachmenschlichen Material, veredelt zur Langlebigkeit. Sorgfältig geplant nähert es sich dem Zustand seiner Nachgeschichtlichkeit, nachdem es längst nachmetaphysisch geworden ist. Eine darin verborgene Utopie verheißt uns um so mehr das Ende der Gewalt, je näher das Ende der Sterblichkeit rückt, da, nach einer Bemerkung von Elias Canetti, der Tod die Bedingung der Möglichkeit des Tötens darstellt. Wobei Canetti vergaß, daß der Sinn von Gewalt bereits durch die Existenz des Schmerzes erfüllt ist. Und auch ohne Tod aus der Sicht optimierender Techniker der Satz von Max Frisch richtig bleibt: „Fleisch ist kein Material, sondern ein Fluch.“

Die metaphysische DNA, der transzendente Gencode, die kulturelle Programmierung des Fleisches ist bei alldem ausgefallen. Wo dem Fleisch aber keine andere Evidenz als die Wahrnehmung von Schmerz und physischer Verwesung anhaftet, kann keine Erfahrung zum metaphysischen Oberhalb überspringen. Es läßt sich daher geradezu als Kommentar zu Bacons Kreuzigungs- und Fleischbildern lesen, zu dem, was sie über die menschliche Situation zum Ausdruck bringen, was Emile Cioran in Absturz in die Zeit formuliert hat:
„Seit wir zu uns selbst verurteilt wurden, gerieten wir immer bedrohlicher aus dem Gleichgewicht. (…) Wir sind in den Rang von Unheilbaren erhoben worden, wir sind schmerzdurchzuckte Materie, brüllendes Fleisch, von Schreien zernagtes Gebein.“

Und nichts als das. Da die alte anthropologische Vorstellung der Kontamination von Logos und Fleisch unhaltbar geworden ist, muß jede Therapie der dadurch entstandenen heillosen Lage „damit beginnen, daß man den Menschen vergessen lernt, ja, sogar noch die Idee, die er inkarniert.“ Versucht die Menschheit den Verlust durch gottähnliche Selbstermächtigung zu kompensieren, wird sie sich, glaubt Cioran, unweigerlich als Ungeheuer entpuppen.

Die Energie der alten, im Fleisch wie ein Stachel steckenden Differenz ist versiegt. Das lebendige wie das leblose Fleisch weiß sich vollkommen selbstidentisch. Von hergebrachter Symbolik entblößt, bietet es sich den Formen seiner Vermarktung und Verwertung rückhaltlos an. Das Geheimnis, welches es durch die Jahrhunderte umgab wie ein Schutzmantel, hat sich aufgelöst. Über seine profane Bewirtschaftung hinaus kann Fleisch sich in keiner erhabenen Dimension, in keiner endlosen Zukunft niederlassen. Sein Auferstehungstermin ist abgesagt. Es sei denn, die Erlösung vom Verfall findet in der elektronisch-neuronalen Dimension statt, als Implantat unserer Bewußtseine in intelligente Computersysteme. Die technoiden Fiktionen haben den religiösen in aller Deutlichkeit den Rang abgelaufen.

 
(...)
Preis: 13,90 € inkl. MwSt. 7%
Inhaltsverzeichnis
Zum Seitenanfang

Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.