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Cover Lettre International 93, Jan Fabre
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LI 93, Sommer 2011

Zeit der Kälte

Höhlenbewohner, Tiermenschen und die Entdeckung der Bilder

 (...) Es gehört zu den Obsessionen europäischen Denkens, nach Bedeutung und Sinn zu suchen, anstatt nach jener Bewegung zu fragen, derer es bedarf, um jenen entfesselnden Vorgang der Abspaltung ins Werk zu setzen, aus dem die Chance zu Bedeutung und Sinn erst resultiert. Die primäre Bewegung des Künstlichen, der Kunst, zu der auch ein gewisser Umgang mit Sprache – Sprachspiele – gehört. Eine prähistorische Welt jenseits der Schrift kann, im präzisen Sinn, nichts beschreiben, die Dinge nicht schreibend ordnen. Ohne daß sie darum sprachlos wäre. In ihrer Sprache bleibt sie für uns aber unerreichbar, nicht zuletzt weil unsere eigene Sprache dabei zu erkennen gibt, wie stark sie mit metaphorischen Vorstellungen aufgeladen ist. Da die Vernunft ständig Sprachbildern aufzusitzen droht, macht sie sich anheischig, über eine Welt zu sprechen, in der es keine Mondsichel, keine gläserne Ferne, keinen eisernen Durchhaltewillen, keine Unbehaustheit gibt. Nur Mond, Ferne, Durchhalten, Unterkommen.

Die primäre Bewegung des Künstlichen, der Kunst. Vermutlich passiert es nicht allzuoft, daß man in diese Bewegung direkt einbegriffen wird. An einem Nachmittag im April 2002 saß ich im spätgotischen Schiff der Kirche des Benediktinerklosters Blaubeuren. Dort wurde erstmals auf der getreuen Replik einer kleinen Flöte gespielt, die nicht lange zuvor in einer der nahen Höhlen ergraben worden war. Wie aus dem Nichts waren da jene klaren, fein gefaßten Töne zu hören, von drei Grifflöchern erzeugt, die mit der Anblastechnik einer Schrägflöte (wie bei der traditionellen ägyptischen Nay) einen Tonraum von sieben Tönen zu erzeugen vermögen, die mit einer anhaltenden Festigkeit den Raum durchziehen. Das Ausgraben des Flüchtigsten: der Töne, Klänge. Diese Rekonstruktion der Flüchtigkeit, diese Sonographie paläolithischer Sounds gehört zum Erregendsten, Einprägsamsten. Die unverhoffte Sekunde einer berührenden Unmittelbarkeit, in der eine Ahnung aufzutauchen scheint, was das undenkbare Wort „zeitlos“ meinen könnte.

Wenige Jahre später tauchte eine weitere Flöte aus noch größerer Zeittiefe auf, kaum eine Armlänge von der ersten Frauenfigur entfernt, womöglich von denselben Leuten dort abgelegt. Vielleicht aber liegt auch ein längerer Zeitraum – ein Jahrtausend?, mehrere? – dazwischen. Wenn es nicht lediglich Erhaltungsbedingungen geschuldet sein sollte, dann liegen die Fundorte dieser Instrumente im Raum einer akustischen Plausibilität. Die „Geißenklösterle“ genannte Felsformation – Fundort der ersten Flöte – schließt einen Raum fast kreisrund zu drei Vierteln ein, in den man durch ein Felstor gelangt, das einem gotischen Spitzbogen ähnlich ist. Gegenüber, im Hintergrund, schafft ein Felsüberhang einen Abri, der an eine Kirchenapsis erinnert, wie man sich an diesem Ort überhaupt kaum gegen den Eindruck wehren kann, man befinde sich in einer sakralen Ruine. Nicht zufällig ist auch die Bezeichnung „Dom“ für die größte Höhlung im Hohle Fels, worin schon nach einer kurzen Zeitspanne spürbar wird, wie die Außenzeit sich einstülpt und ein intrinsisches Maß bekommt: Tropfen, Tropfenhall, auf Fels, in Wasserpfützen. Das wird bald zum Rhythmus der Höhle. Und beide Orte eröffnen ein stupendes Erlebnis: wie sich die Luftschwingungen im Röhrenraum der kleinen Flöten in einen immensen, bei schwachem Licht schwer absehbaren Raum natürlicher Akustik erweitern. Die Höhle wird zum klingenden Hohlraum eines ausgehöhlten Knochens, also Körperstücks, das eine Ausdehnungserfahrung vermittelt, welche uns heute ein Gefühl abverlangt, das sakral oder sublim formatiert ist.

(...)

So trifft erste Musik den menschlichen Körper. Dieser Körper ist: ein Körper der Jagd, ein Körper des Suchens und Fassens, einer der Berührung, ein Körper der Ruhe, ein Körper der Bilderschaffung und der Resonanz. Und vor allem: Er ist dies alles auf gleicher Ebene, nichts Erhabenes, nichts Tiefes. Die primären Bildwerke wie die ersten Klanginstrumente (ausgenommen möglicherweise der „Löwenmensch“) finden sich alle mitten im Kontext der Überbleibsel des alltäglichen Lebens, nahe dem Abfall. Nie aber in der Nähe des Todes, von Grabstätten oder sepulkralen Opfern, mit denen sich ein meta-physischer Grundzug abzeichnen würde. Dies ist das eine, das uns seltsam anmuten könnte; das andere ist: Die Menschen fehlen an der Seite ihrer Erzeugnisse, als gäbe es dafür einen bedeutenden Grund. Kaum Knochenfunde und sterbliche Überreste der Menschen des Aurignacien. Von Menschen, welche eine Wirklichkeit entdeckten, indem sie Klanginstrumente und Bildwerke schufen, durch die sie eine Zukunft auftaten, in der wir noch immer leben. Eine Kunst, mit der eine spezifisch menschliche Verhältnismäßigkeit der vielen Bedeutungen und Weltmöglichkeiten real wurde. Ihr geht keine höchste Idee, kein oberstes Gutes, kein Gott voraus. Platons Höhlengleichnis mit seiner Ideenwelt muß ebenso gründlich umgeschrieben werden wie die jüdische Erkenntnisparabel der Genesis, denn weder der Weg aus der Höhle noch jener aus dem Paradies führt zum Wissen und Erkennen der eigentlich menschlichen Wirklichkeit. Dazu bedarf es der die Verhältnisse sprengenden Bilder und Klänge der Aurignacien-Leute, die diese Realität zum allerersten Mal faßbar machten. Doch wie bei jenen Kunstwerken des Mittelalters, die ihre Schöpfer unverzeichnet lassen, bleiben sie selbst ungreifbar.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.