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Cover Lettre International 65, Dennis Gün
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Inhaltsverzeichnis

LI 65, Sommer 2004

Zeit des Vulgären

Der triste Mensch in den flüchtigen Pulks des 21. Jahrhunderts

Der Fall Des Esseintes gewann rasch eine anrüchige Berühmtheit. Hatte es einen solchen individuellen Hochmut, eine so hochgradige Arroganz je zuvor gegeben? Nein, dieser Fall war unerreicht, es sei denn, man wollte bis zu den gottbesessenen Anachoreten zurückgehen. Seither hatte sich mit dieser Radikalität noch niemand verweigert: der Gesellschaft, der Natur, der Geschichte.

Von Paris gerade so weit entfernt, daß die Verkehrsverbindungen es niemand nahelegen, dorthin zu fahren, errichtet Des Esseintes, in der Zeit der Erfindung des Phonographen und wenige Jahre vor der des Films, eine bemerkenswerte ästhetische Eremitage. Er ist gerade einmal dreißig, letzter Sproß eines funktionslos gewordenen Adels, doch bereits im Besitz einer so reichen Querschnittserfahrung in den sozialen Milieus und Genußstilen des modernen, großstädtischen Europa, daß er sich angewidert und voller Verachtung daraus zurückziehen kann. In seiner weltfernen thébaïde lebt er fortan gegen den Strich, gegen die Epoche. Seine solitäre Sinnlichkeit organisiert in einem wohlerwogenen Farbenvironment und Wohndesign eine lückenlose Enklave sensitiver Artistik und einer erbarmungslos genauen Intelligenz. Es finden sich hier erlesenste Bücher und Bilder (keine Photographien) sowie eine überreiche Welt olfaktorischer und geschmacklicher Essenzen. Dabei bedeutet „Kosten" für ihn weniger ein Maß von Kaufwert als eine spektakuläre Fähigkeit der menschlichen Sinne.

Die Zeit des kulturpessimistischen Dandytums, in dem er den Archetyp einer hochgemuten Dekadenz abgegeben hat, liegt hinter ihm. Die Jahrzehnte morbider Angeberei mit ihren coolen und kostspieligen Allüren wirken wie eine endgültig abgelebte Vergangenheit. Geblieben ist Des Esseintes sein unüberwindbares Unbehagen in der Kultur. Dieses sieht er täglich neu entfacht, wenn er etwa um sich herum das unterschiedslose Genießen, das generalisierte Amüsement verfolgt, die Tag für Tag „in den Zeitungen ausgebreiteten gesellschaftlichen Albernheiten"; wenn sich Fall für Fall neu erweist, daß Politik zu einer „Zerstreuung mittelmäßiger Geister" heruntergekommen ist, über allen öffentlichen und privaten Belangen dagegen die „gewaltige Flegelei der Bankiers" operiert, wobei ganze Städte und Länder „vor dem gotteslästerlichen Tabernakel der Banken" auf dem Bauch liegen.

Lassen wir dahingestellt, inwieweit uns Des Esseintes' Beschreibungen aktuell vorkommen, seine Konsequenzen bleiben unattraktiv radikal. Der ungeheure Versuch, den er unternimmt, die Simulationen und ausgeklügelten Verfahren des Virtuellen, welche die Wirklichkeit durch ein künstliches Bild von der Wirklichkeit ersetzen – mittels Imagination, weniger durch Medien  –, dieser Versuch stützt sich auf den heiligen, letztlich tödlichen Ernst einer Religiosität der Sinnesorgane. Die distinguierten, artifiziellen Reize, die er sich zuführt, und das gezüchtete Zelebrieren einer phänomenalen Erscheinungswelt, zu deren Mittelpunkt sein eigener Leib wird, sind Teil einer rigoros gelebten Metaphysik. Sie löst den Bohemienästhetizismus ab. Und das Programm, nicht mehr der Natur, der Geschichte und der Gesellschaft anzugehören – was bis zur Konsequenz künstlicher Ernährung führt –,  gehört zu jener äußersten und letzten subjekttheoretischen Transzendenz, der Des Esseintes sein Dasein verschrieben hat.

Dennoch ist der Fall Des Esseintes ein körperlicher: In dem Moment nämlich, wo er schließlich physisch zerrüttet zusammenbricht, muß das radikalste Experiment einer ästhetischen Religion als gescheitert gelten. Dabei sind es – wie bei so vielen Revolutionen – nicht unbedingt die Programme, die scheitern, es versagt der Körper. Nicht der Mensch, der Magen-Darm-Trakt ist überfordert. Stammhirn und Parasympathikus, nicht der Kortex, erweisen sich als das Problem, und deswegen leiten die Eingeweide die Konterrevolution ein. Zuletzt hat es den Anschein, als würde Des Esseintes nicht viel mehr übrigbleiben, als sich von resoluten Ärzten, die über klare Begriffe von Gesundheit und Krankheit verfügen, in die Mittelmäßigkeit der Gesellschaft, in seine Zeit zurückdeportieren zu lassen. Was ihm als einziges bleibt, ist sein wahrhaft generöses Maß an Verachtung, einer Verachtung für das Vulgäre schlechthin.

(...)

Aufgrund einer geradezu unangreifbaren Macht des Faktischen, die sich jederzeit selbst rechtfertigt, ist das Vulgäre zum übergreifenden sozioästhetischen Design des westlichen Gesellschaftstyps geworden. Gab es vordem Mentalitätsepochen des Idealismus und der décadence, solche der Nationalisierung und andere der Politisierung, so erleben wir jetzt ein Zeitalter der Vulgarisierung. Vulgär sind die Verhältnisse erst unter augenscheinlich konkurrenzlosen Bedingungen geworden, die komplex, ereignisbezogen und außergewöhnlich insofern sind, als man sie für historisch ausgesprochen unwahrscheinlich ansehen muß. Es schien nicht viel dafür zu sprechen, daß im Traditionsstrom des Abendlands das Vulgäre zur mentalen und sozioästhetischen Größe aufsteigen sollte, die den Lauf der Dinge im 21. Jahrhundert prägt, wie immer man das bewerten mag. Dabei liiert sich die Macht des Faktischen, die dem Vulgären praktisch zukommt, erfolgreich mit der theoretischen Anerkennung des Faktischen durch Teile der Kulturwissenschaft.

Einen ersten klarsichtigen Versuch über das Vulgäre findet man in jener Ästhetik des Häßlichen, die der Königsberger Philosoph Karl Rosenkranz 1853 veröffentlichte. Unter einer die idealistische Höhentopographie aufrufenden Überschrift „Das Niedrige" versammelt er wichtige Merkmale des Vulgären: die „gestempelte Trivialität" etwa, welche durch endlose Wiederholung der im Grunde ewiggleichen simplen Geschichten durch eine „Nullität des Inhalts" besticht. Sodann das (zumindest äußerlich) fortwährend Wechselnde und undurchschaubar Willkürliche, wozu man heute sicher die Strategien der Kampagnenpresse zählen darf. Deren unklare Gewalt wirkt sich auf die postpolitische Öffentlichkeit ähnlich obskur und destruktiv aus, wie es die diffuse Machtstruktur sozialistischer Diktaturen charakterisierte. Niemand kann vor ihr sicher sein, keiner vermag sie wirklich einzuschätzen, denn so massiv ihr Wellenschlag im Einzelfall auch sein mag, im Hintergrund wirken allenfalls „kleinliche und egoistische Motive". Wo ehedem der Führungsanspruch einer Partei mächtig war, operiert nun das eiserne Gesetz einer Marktführerschaft der Stimmungen und Meinungen – sprich: die Animation punktueller Abschätzigkeiten.

Hinzu kommt eine Eigenheit des Vulgären, die Rosenkranz als Roheit bezeichnet. Er erklärt sie zur „Erniedrigung der Freiheit unter eine ihr fremde Notwendigkeit oder gar als das Hervorbringen einer solchen Erniedrigung". Aktualisiert man diesen Satz etwa anhand jüngeren deutschen Liedguts – Beispiele: „Männer sind Schweine" oder „Es ist geil, ein Arschloch zu sein"  –, an dessen Erfolg eine Werbestrategie wie „Geiz ist geil" schlau und überaus profitabel anzuknüpfen wußte, löst sich Philosophie rasch in genaue Zeitdiagnostik auf. Lassen wir Geilheit nämlich als Naturphänomenen gelten und begründen wir zudem das kulturelle Vergnügen an deren Spielarten mit der menschlichen Natur, dann erweist sich die „Hingebung an eine Abhängigkeit von der Natur, welche die Freiheit [etwa jene der Großzügigkeit, des Altruismus oder der Höflichkeit, VD] aufhebt", sprich: die „Gemeinheit des Obszönen", als sozial akzeptierter Breitenspaß. Das – ein Breitenspaß – ist heute geblieben von den unterschiedlichen künstlerischen Verfahren des Obszönen, wie sie in der Zeit nach Rosenkranz gegen gesellschaftliche Verlogenheit, sexuelle Repression und bürgerliche Bigotterie aufgeboten wurden. Die Provokationen der Grausamkeits-, Schmerz- und Schockästhetiken sind immer seltener auf Kulturhaltungen eines traditionellen Bürgertums gestoßen. Zuletzt verpufften sie – vorausgesetzt, sie wurden noch zur Kenntnis genommen – an den unbeugsamen Nivellierungspraktiken mentaler Mittelstandsphänomene. Dem obszönen Bürger-erschrecken kamen schlicht die soziologischen Bedingungen abhanden.

Allerdings verschwand das Obszöne nicht einfach. Statt dessen fand seine Vulgarisierung statt. Inzwischen muß es nicht mehr aus einem dunklen sozialen Hintergrund – ob scena – schrill ins Kunstlicht irgendwelcher Bühnen gezerrt werden. In seinem neuen Modus des Vulgären liefert es sich von selbst einen tagtäglichen Kampf um öffentliche Präsenz und Aufmerksamkeit. Seltsam, doch wenn wir ganz genau sein wollen: Die vulgäre Gesellschaft ist kaum noch in der Lage, obszön zu sein. Dafür weiß sich das konsensuelle Vergnügen am Vulgärobszönen mit seinen zahlreichen Schreckensindustrien und Menschenkörperproduktionen unerschütterlich, eigenständig und erfolgreich in die Alltagskultur integriert. Ein Vergnügen, das selbst dort, wo es den obszönen Tabubruch ins Kulturmuster der Provokation einschreiben möchte, von niedrigen Beweggründen, wenn auch erheblich größeren Summen, am Laufen gehalten wird.

Das ist nicht selbstverständlich. Rosenkranz noch hatte das Vulgäre als etwas vollkommen Unselbständiges angesehen. Seiner Meinung nach ließ es sich allein als Negation des Schönen denken. Es fällt uns heute schwer, diese idealistische Auffassung nachzuvollziehen. Vielleicht gelingt es noch am ehesten, wenn wir uns die lange Kitschdebatte in Erinnerung rufen, wo man in genußvollen Abgeschmacktheiten, abgegriffenen Darstellungen badender Schönheiten und so gemüt- wie friedvoller Wälder noch die direkte Abhängigkeit von einer Ästhetik des Schönen feststellen konnte. Dieser klassische Kitsch als Modernisierungstyp des Industriezeitalters, in dessen Warenformat die ökonomisch relevanten Gesellschaftsteile ästhetisiert wurden, sieht sich allerdings mittlerweile von den Ästhetisierungstypen der Medienepoche abgelöst. In deren Vollzug löste sich das Vulgäre auf unterschiedlichen Wegen aus seiner Relativität. Dabei haben sich die Vorzeichen umgedreht: Nachdem schon die Pop-art sich als eine Reflexionsform verstand, die sich auf triviale, ökonomisch organisierte Massenprodukte bezog, gibt es seither kaum ein Phänomen der trivialen Populärkultur mehr, ob Kunstclip oder SMS-Gedicht, das nicht zum formalen und inhaltlichen Bezugspunkt von künstlerischem Tun wird. Abhängigkeit und Bezüglichkeit haben sich endgültig umgekehrt.

(...)

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.