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Cover Lettre International 83, Dieter Appelt
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Inhaltsverzeichnis

LI 83, Winter 2008

Zyklomoderne

Von der abendländischen Linearität zur ekstatischen Figur der Drehung

(...) Zur Anthropologie des Infantilen gehört die Tatsache der erschütternden Wirklichkeit. Sie taucht auf in den Irritationen, die das Staunen des Kindes beherrschen, im Phantastischen seiner Wahrnehmung, dem märchenhaften Erzählen von Erlebnissen und, ganz besonders, im Herbeiführen erster Rauscherfahrungen. Wir alle kennen diese Situation, sie ist so allgemein wie unvergeßlich: Man stellt sich irgendwo hin, auf einem Rasenstück oder in einem Hinterhof, und beginnt, sich zu drehen. Erst langsam und vorsichtig, dann immer rasender und zügelloser, bis zu einem Punkt, wo der Körper, wie ein Gefäß auf einer Töpferscheibe, aus der Zentrierung gerät und wankt oder sogar fällt. Doch sobald sich die Turbulenz im eigenen Leib wieder beruhigt hat, beginnt man unweigerlich erneut mit dem Wirbel. Als wäre es etwas vom Schönsten, Verzückendsten, das es auf dieser Welt gibt.

Fast hat man im Rückblick das Gefühl, als hätte das eigene Leben nicht seinen Anfang nehmen können, wenn man sich nicht in einem gewissen Moment zu drehen begonnen hätte. Nicht nur, weil sich einem ein neues Sinnessystem eröffnete, das man bislang kaum mit Aufmerksamkeit bedacht hatte: der Gleichgewichtssinn, der jetzt beinahe ganz zum Drehsinn wird. Sondern mehr noch, weil sich mit der unmäßigen Reizung dieses Sinnes ein Erlebnis einstellte, das die Wirklichkeit in eine Krise stürzte, nach der sie für immer verändert sein sollte. Und das ist es, dieser irreale Taumel, was sich seit Kindertagen wie eine mémoire involontaire in unserem Körpergefühl bewahrt hat. Zur Anthropologie des Infantilen gehört die Tatsache der erschütterten Wirklichkeit.

Als physische Eigenwilligkeit, ohne bestimmte Absicht, nichts in den Händen und überaus fraglos beginnt in der Kindheit also ein Bewegungsabenteuer, das sich von einem unbewußten Impuls zum rasch spürbaren Wiederholungsdrang entfaltet. Es ist dies die erste psychedelische Körpertechnik, der andere wie Schlafverzicht, Fasten, Hyperventilation oder Marathonlauf folgen werden. Ein primärer Rausch, den sich ein Mensch aus einer inständigen Bewegung, der anhaltenden Drehung um die eigene Körperachse, zu verschaffen in der Lage ist. Doch welches verwegene Motiv treibt ihn dazu an, einen gerade erst aufrecht stabilisierten Leib und den vor kurzem erstmals festgestellten, noch alles andere als bedrückenden, da noch frischen Körper mit einem Mal wieder zu destabilisieren und ins Schwanken oder zum Sturz zu bringen?

Ähnlich wie beim Schaukeln, an dessen Wendepunkten auf einer Kreislinie ein leichter Schreckmoment wiederkehrt, erobert sich das Kind im Sichdrehen ein zwar weniger panisches, dafür weit stärker psychedelisches Ereignis, sich selbst und seine Welt durcheinanderzuwirbeln. Die vorsätzliche physische und psychische Verunsicherung, das Vordringen in die Ungewißheit des Taumels birgt einen extremen Impuls, der oftmals bis zur Erschöpfung, bis zum Umfallen ausgelebt wird. Wirbel und Schwindel, motorische Bewegung und psychischer Effekt, sie bezeugen dem Ich in einem leidenschaftlichen und launischen Moment die innere Einheit von Materie und Bewußtsein, die früh zur eigenständigen und mutwilligen Verwerfung einer konsolidierten Realität eingesetzt werden kann. Der Leichtsinn des Schwindels, sein psychischer und sein erkenntnishafter Aspekt legt nahe, daß es beim Sichdrehen weniger um Körperausdruck als vielmehr um Erschütterung und Ekstase, Magie und Macht geht.

Und vielleicht ist dem, sinnesphysiologisch betrachtet, vor allem auch deswegen so, weil der Gleichgewichtssinn bei der Frage, ob wir Menschen etwas für wirklich erachten oder bloß für Illusion, hohe Bedeutung beanspruchen darf. Kognitionsforscher und Neurobiologen jedenfalls setzen den Gleichgewichtssinn als das oberste Glaubwürdigkeitsorgan bei der Bewertung von Wirklichkeitskriterien an, weit wichtiger etwa als Auge oder Gehör. Um so heftiger gerät die Welt, die die Sinne unserem Gehirn vermitteln, naturgemäß ins Trudeln, wenn von der Seite des Vestibularapparats Informationen einlaufen, welche die stabilen Ordnungen im Gleiten und Schwanken zeigen. Der Körper rotiert um eine senkrechte Achse, die im Grunde die Wirbelsäule ist, und schon kommt in ihm die Datenlage über die Realität durcheinander, und das Bewußtseinssubjekt verfällt einer psychomotorischen Technik des Rausches.

Wirbelnde Drehbewegungen sind, was die Beanspruchung menschlicher Sinnessysteme anbelangt, extrem anspruchsvolle Körperaktionen. Sie bringen sämtliche Sensorien an die Grenze ihres Funktionierens. Doch obschon Sensorik und Motorik dabei im wechselseitigen Austausch zusammenspielen, sie also „kommunikative Bewegungen“ sind, lassen sie sich kaum – oder nur unter hochgradigen Anstrengungen – in „gekonnte Bewegungen“ überführen, bei denen man mit zunehmender Übung eine „Bewegungsübersicht“ (Arnold Gehlen) erlangen kann. Aber Übersicht soll gerade aufgegeben, verwirbelt werden. Eine Intensiverfahrung, die sich von der Kindheit über verschiedene Bewegungskonventionen allmählich ins Erwachsenenalter verschiebt und, beispielsweise im Tanz, gewissermaßen kulturellen Status erlangt.

„Drehschwindel und Tanzekstasen sind uralt“, stellte Arnold Gehlen in Urmensch und Spätkultur fest und erkannte, daß sich die Weltverhältnisse für den Menschen dabei umkehren, sich vom Außenbezug zum Innenerleben wenden. „Tanz, Trunkenheit, toxische Exzesse, Selbstverstümmelungen usw. sind von außen nach innen angesetzte Handlungsreihen, und die in ihnen gewollte Übersteigerung und Hypertension der Affektivität und Sensibilität erreicht höchste Grade, weil die aufgelösten Hemmungsenergien in die Dynamik mit eingehen, so zu einer als beglückend empfundenen Befreiung und Entlastung des Menschen von sich führend. (…) Eine grandiose Umkehr des Lebensschwerpunktes wird möglich, ja geradezu eine Übersteigerung des Unterschiedes von Innen- und Außenwelt zum Gegensatz.“ Die Volten vom Außenhandeln zum Innenerleben sind allerdings nicht nur Entlastungstechnik, sie sind vor allem potenzierte Ich-Improvisationen. Denn sie „treiben ein fundamentales menschliches Konstitutionsmerkmal weiter, oder, anders gesagt, sie vermitteln dem Menschen wirklich eine neue Offenbarung über sich selbst“.
   Die Körpergeschichte des Rausches beginnt mit einer Torsion. Und die exzessive Reizung der Drehempfindung kann dem Individuum eine sehr allgemeine, sehr frühe Erfahrung zugänglich machen, die sich im Verlauf seines Lebens zur umfassenden mentalen Figur erweitert: dem Wirbel besinnungslosen, momenthaften Daseins. Einen erschütternden Moment auf diesem Weg beschrieb Antal Szerb einmal in seinem Roman Reise im Mondlicht (1937). Es geht an dieser Stelle um die verstörende Erfahrung eines Halbwüchsigen, die ihn von den anderen absondert: „Zu alldem kam als fürchterlichstes Symptom der Wirbel. Ja, der Wirbel, so wie ich es sage. Von Zeit zu Zeit hatte ich das Gefühl, neben mir tue sich die Erde auf und ich stehe am Rand eines gräßlichen Wirbels. (…) Tatsache ist aber, daß ich mich nicht zu rühren wagte, wenn mich das Wirbel-Gefühl überkam, und reden konnte ich auch nicht, und ich dachte, alles sei zu Ende. (…) Und dann erreichte mich der Wirbel tatsächlich. Unter meinen Füßen rutschte die Erde weg, und ich hing über der Leere, an das Eisengeländer geklammert. Wenn meine Hände keine Kraft mehr haben, dachte ich, falle ich hinein. Und ich begann, dem Tod ins Auge zu blicken, resigniert und betend.“

Ein Beispiel für „motorische Phantasmen“ (Gehlen), die das kindliche Sichdrehen in pubertäre Überempfindlichkeit übertragen? Oder die existentielle Erweiterung des fundamentalen Erlebnisses der Selbstrotation, in der sich die Zeit verliert „wie im Traum oder während des Liebemachens“ (Szerb)? Tatsache ist, im „Wirbelgefühl“ öffnet sich eine Raumtiefe – die Erde tut sich auf –, wie es sich auch in der leidenschaftlichen Erfahrung des baile jondo, des „tiefen“ Flamencotanzes, offenbart. Der Wirbel dissoziiert Raum und Zeit, und in diese Auflösung sickert mit dem Exzeß ein Hauch des Todes.

Sichdrehen – eine Gebärde, die den Raum attackiert, ihn öffnet, ausweitet, ihn zugleich intensiv und unzugänglich macht, die zentriert und exzentrisch ist. Das menschliche Kreisen gefällt sich in der Selbstermächtigung, eine andersgeartete Zeit auftauchen zu lassen. Gewissermaßen: eine neue Zeit aus dem Staub der Welt aufzuwirbeln. Ein Verschmelzen von Vergangenheit und Zukunft im rotierenden Augenblick, der sich wie ein Bohrer in die Tiefe der Zeit hineinfrißt. Eine plötzlich bewußte Achse im Menschen selbst – das Glühen des Augenblicks, das Auge des Todes. Selbstermächtigung und Selbstvernichtung. Der Wirbel entfesselt die beiden Gegenkräfte, das Zentripetale und Zentrifugale der Menschenexistenz. „Wie von Wind aufgejagte Staubwirbel drehen sich die Lebewesen um sich selbst, in der Schwebe gehalten vom großen Odem des Lebens.“ (Henri Bergson)

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Die kommende Ausgabe Lettre 148 erscheint Mitte März 2025.