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Inhaltsverzeichnis

LI 133, Sommer 2021

Kleiner Weltkrieg

Vierter Akt der Moderne – Eine geopolitische Explosion und der Kaukasus

Covid, Brexit, Trump: Der letzte Herbst hatte einiges im Angebot, um die Weltaufmerksamkeit von jenem Krieg abzulenken, der am sonnigen Morgen des 27. September 2020 begonnen hatte. Unmittelbare Kriegsteilnehmer waren die kleinen kaukasischen Nationen Armenien und Aserbaidschan, die um das seit langer Zeit umstrittene Gebiet Bergkarabach kämpften – so lautete formelhaft die „unparteiische“, in der Nachrichtenflut untergehende Schlagzeile im Westen. Aserbaidschan brachte Erdoğans Türkei mit ein – wurde eigentlich sogar von ihr geführt – und mobilisierte schlechtbezahlte syrische Dschihadisten und teure israelische Drohnen. Pakistan stellte sich auf Aserbaidschans Seite, im wechselseitigen Geben und Nehmen für die Anerkennung seiner Rechte über Kaschmir und zweifellos auch für konkretere Anreize. Bakus enormes Waffenarsenal, über die Jahre aus Rußland importiert, wurde ergänzt durch moderne Raketen der weißrussischen und tschechischen Artillerie, die in windigen Deals mit aserbaidschanischen Petrodollars erworben wurden. Die Republik Georgien, aus historischen Gründen den christlichen Armeniern nie besonders wohlgesinnt – und durch die prorussischen Separatismen ihrer ethnischen Randgebiete Abchasien und Süd-Ossetien traumatisiert –, verkündete ihre Neutralität, was in der Praxis hieß, vor den massiven Transfers militärischer Güter und Belegschaften  über den „Ost-West-Korridor“ aus der Türkei nach Aserbaidschan beide Augen zu verschließen. Die Karte erweist es: Die kaukasischen Berge sind so hoch wie ehedem und Hindernisse sogar für modernste Transportmöglichkeiten.

(…)

Zu guter Letzt erfolgte das Eingreifen Rußlands nach 44 Tagen brutaler Kämpfe, als die angeschlagenen Armenier bereits verloren schienen. Am 9. November 2020, als die aserbaidschanischen Kräfte sich darauf vorbereiteten, Stepanakert, die Hauptstadt der Enklave, anzugreifen, stellte Putin ein Ultimatum: Wenn Baku die Operationen nicht einstellte, würde Rußland intervenieren. Wenige Stunden später verkündete er ein Friedensabkommen. Der aserbaidschanische Präsident, Ilham Alijew, erklärte im Fernsehen das Ende der Kampfhandlungen. Armeniens Premierminister, Nikol Paschinjan, hatte keine andere Wahl, als den von Putin ausgehandelten Vertrag zu unterzeichnen. Einen Tag später kamen russische „Friedenswächter“ in einer spektakulären Luftbrückenaktion an – mit Transportflugzeugen, Militärhubschraubern, gepanzerten Mannschaftstransportern, etwa 2 000 schwerbewaffnete Truppen der 15. Motorisierten Schützenbrigaden, Bombengeschwadern und Ingenieuren.

 

Rückkehr Eurasiens?
Die Türkei, Rußland, Iran, Pakistan, China: Im Kampf des Jahres 2020 um Bergkarabach standen die heutigen Avatare der einst gewaltigen eurasischen agrarischen Reiche. Zum Verständnis der heutigen Geschehnisse im Kaukasus verhilft eine Betrachtung ihrer Vorgeschichte.
     Zu Beginn des 16. Jahrhunderts hätten Teilnehmer eines geopolitischen Round-Table-Gesprächs – die Arabisch, Chinesisch und vielleicht Kirchenlatein gesprochen hätten – auf die Schießpulver-Revolutionen verwiesen, die das Ende des schauerlichen Mittelalters besiegelt hatten und eine neue Ära markierten. Kanonen zerschmetterten die Mauern befestigter Städte und bändigten die Plage nomadischer Invasionen. Eine neue Generation von Imperien konnte entstehen, die auf das China der Ming-Dynastie folgte und drei große islamischen Mächte einbegriff: die Mogulreiche, die danach strebten, Indien zu umfassen, die safawidische Restauration Groß-Irans und die Osmanen, die sich auf das oströmische Erbe beriefen und sich den südlichen Kaukasus mit ihren safawidischen Rivalen teilten.
     Dies war der erste Akt einer Moderne, in der Asien eine prominente Rolle spielte. Aufstrebende Ausreißer wie Moskau oder das einst ungezähmte Birma könnten ebenso erwähnt werden. Im Westen skizzierten die Habsburger den Weg zum Aufstieg eines kommerziellen, bürokratischen und konservativ-religiösen, universellen Gebildes; doch die langwierigen Religionskriege, die wider Erwarten in einem Patt endeten, verhalfen dazu, die Souveränität zahlreicher Nationalstaaten zu sichern. Den Westlern kam es zu, ihre Waffen und gutausgebildeten Soldaten auf Meeresflotten einzuschiffen und die Plünderungs- und Handelsunternehmungen der Wikingerzeit im Weltmaßstab zu wiederholen.
     Der zweite Akt der Moderne erlebte den Aufstieg der industriekapitalistischen europäischen Mächte. Indien, Persien und China waren in unterschiedlichem Grade kolonisiert, zur Hälfte oder vollständig. Zwei aufstrebende Imperien, Rußland und die Türkei, Überlebende von Akt eins, behielten Stützpunkte auf dem europäischen Kontinent. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts mußten die Osmanen – wie die Perser – zusehen, wie große Stücke aus ihren Gebieten herausgehackt wurden. Das Russische Reich ging aus der Konfrontation mit Napoleon, dem symbolischen Vorboten des zweiten Akts, dennoch diplomatisch und militärisch gestärkt hervor. Nachdem die östlichen Steppen kolonisiert waren, absorbierte es nun das Land im Süden, annektierte die Schwarzmeerküste, expandierte über die persisch beherrschten Khanate des Südkaukasus hinweg und etablierte mit dem Friedensvertrag von Turkmantschai 1828 seine Herrschaft über das heutige Armenien und Aserbaidschan. Die Region stellte die militärische Grenze zwischen dem zaristischen Rußland und dem Osmanischen Reich dar, welches Westarmenien noch beherrschte. Im Strudel des Ersten Weltkriegs – als sich eine andere außerordentliche Begebenheit in der Geschichte des Kapitalismus ereignete: das Zentrum des modernen Weltsystems schien sich auf dem Gipfel seiner Macht dem kollektiven Suizid hinzugeben – wurde die gesamte Region in Stücke zerschlagen und neu zusammengesetzt.
     Das 20. Jahrhundert erlebte dann den Beginn von Akt drei der Moderne, unter der Ägide der Vereinigten Staaten, einer nichteuropäischen Weltmacht. Kontinentaleuropa wurde durch den Faschismus gewaltsam wiedervereinigt, durch diesen krankhaften Auswuchs kolonialer Strategien und rassistischer Ideologie, der durch den überaus blutigen chirurgischen Eingriff des Zweiten Weltkriegs entfernt wurde. Die Operation wurde von einer amerikanischen Industrie kontinentalen  Maßstabs ins Werk gesetzt und legte ein Kriegsfundament unter das, was auf die größte aller Sozialdemokratien hinauslaufen sollte. Der Großteil der Kämpfe wurde von der Sowjetunion ausgefochten, jener von den Kommunisten in einer anderen unwahrscheinlichen Wendung von welthistorischer Dimension aufgebauten militärisch-industriellen Supermacht. Nach 1945 befriedete der Kalte Krieg Europa zum Preis seiner Verzwergung. Die Europäische Union entstand als Verein ehemaliger Imperien, darauf bedacht, das Schicksal der italienischen Renaissance-Stadtstaaten – jener vormaligen protokapitalistischen Pioniere, die schließlich im Museum endeten – abzuwenden.
     Einmal mehr blieben die beiden vorherigen eurasischen Imperien außerhalb des Euro-vereinigenden Projekts. Die Türkei und Rußland waren historisch europäisch, obgleich kulturell nicht westlich. Die Türkei, NATO-Mitglied seit der Frühzeit des Kalten Krieges, blieb dauerhaft jenseits der Schwelle zum europäischen Wohlstand. Rußland, oder vielmehr die UdSSR, versuchte mindestens zweimal, Europa zu ehrenvollen Bedingungen beizutreten – 1953, als der zynische Lawrenti Beria nach Stalins Tod einen neuen Kurs einzuschlagen versuchte, und noch einmal in den 1980er Jahren im Zuge von Gorbatschows Perestroika. Doch das Projekt eines Groß-Europas vom Atlantik zum Ural zog stets die Frage nach der Rolle Amerikas nach sich. Statt dessen begann Washington die Beziehungen zum maoistischen China zu pflegen, so unwahrscheinlich (und sicher) dies zu diesem Zeitpunkt erschien. Die Sowjetunion kollabierte aus sich heraus, wobei dem winzigen Karabach eine überraschend zerstörerische Rolle zukam. Die Türkei bekam dann Gelegenheit, ökonomisch und politisch von der Plünderung der sowjetischen Beute zu profitieren. Doch vor allem bot die Türkei sich Europa als eine Art örtliches China an: als großes Reservoir junger, gering qualifizierter Arbeitskräfte, diszipliniert durch ihre eigene Spielart asiatischer Werte und auf vorteilhafte Weise zwischen den Kontinenten positioniert.
     2002 trat Erdoğan als Fahnenträger des islamischen Neoliberalismus in Erscheinung und bot der EU einen konkurrenzlos vorteilhaften, semiperipheren Deal an. Auch Putin machte ein semiperipheres Angebot, das auf Rußlands natürlichen Ressourcen, militärischer Technologie und einer gut ausgebildeten, nach westlichem Konsumismus gierenden Bevölkerung beruhte. Die türkischen und russischen Vorschläge verstrichen unbeantwortet, was die Anwärter zutiefst beleidigte und auf die Suche nach Alternativen gehen ließ. Ganz abgesehen von westlichem Snobismus konnten die europäischen Politiker keine Lösung finden, derartige Schachzüge mit ihren Beziehungen in Washington in Einklang zu bringen – ähnlich Washington, das über die neue historische Prominenz und Selbstsicherheit seines chinesischen Partners bestürzt schien. Dies führt uns zur Moderne, Akt vier, der historischen Gegenwart, in der nichtwestliche Mächte – erneut China, Indien, Türkei, Rußland – beginnen, innerhalb oder von außen gegen die Weltmachtordnung unter US-Führung anzurempeln. Ehe wir die Bedeutung des winzigen, bergigen Karabach in diesem vierten Akt untersuchen, könnte es hilfreich sein, den jeweiligen Betrachtungswinkel zu berücksichtigen, nicht nur den größerer Imperien, sondern auch den kleinerer Länder zwischen ihnen.

(…)

 

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Die kommende Ausgabe Lettre 147 erscheint Anfang Dezember 2024.